Die Zeit steht still
Joachim Sartorius
Schon der Name klingt edel: Adalar – die Inseln. So sagen die Istanbuler, die das kleine Archipel im Marmarameer gern als Sommerfrische und Ausflugsziel besuchen. Prinzeninseln steht im Reiseführer. Eine knappe Stunde dauert die Fahrt mit der Fähre ab Kabatas. Uns bleiben nur noch wenige Urlaubstage in der märchenhaften Stadt am Bosporus, und wir haben den Topkapi Palast noch nicht gesehen. Dennoch beschließen wir, einen Tag auf den Inseln zu verbringen. Eigentlich gibt es dort »Nichts«. Nur Pferdekutschen (keine Autos), ein paar Fischrestaurants, Cafés, einen kleinen Marktplatz und wunderschöne, palastartige Villen. Das Ambiente katapultiert uns weit zurück in die Vergangenheit. Passenderweise zieht, als wir abends das letzte vapur besteigen, um zu unserem temporären Zuhause im Galata-Viertel zurückzukehren, ein filmreifes Gewitter auf. Schwarze Wolken verdunkeln den eben noch blauen Himmel, Donner grollen, Blitze verfolgen uns . Und sollten wir untergehen, dann werden unsere Geister mit den heldenhaften Seefahrern der Antike spuken.
Kein Wunder, dass die Adalar auch den Poeten locken. Im Herbst 2008 zog sich der Lyriker und Direktor der Berliner Festspiele Joachim Sartorius einige Wochen ins Hotel Splendid auf Büyük Ada, die größte der Prinzeninseln, zurück, und die Impressionen seines Aufenthalts sind im Mareverlag erschienen. Ein Reisebuch der sympathischsten Art. Man erfährt viel über die Inseln und ihre Bewohner – einschließlich der Seeigel auf Sivri. Man liest nebenbei einiges Interessantes über das immer faszinierende Istanbul. Man reist mit, wenn Selcuk, der »Housesitter« für das kösk des John Pasa, dem Dichter die Geschichte der faytons und vom Überwintern der Pferde erzählt, wenn Atad Beramoglu in die Taverne Prinkipo einlädt, wenn Sartorius mit Karayan, dem Fischer, und seiner hübschen Tochter Macide auf Fischfang geht.
Auf den Inseln lebt es sich gut. Die Zeit steht still, und geht doch weiter. Es ist ein angenehmer Genuss, dem Autor auf seinen Erkundungstouren zu folgen, sich treiben zu lassen. Und verständnisvoll zu lächeln, wenn er aus Faulheit darauf verzichtet, die Genehmigung zum Besuch der einzigen byzantinischen Kirche auf dem Archipel einzuholen, und sich mit Montaigne tröstet: »Ich komme zurück. So ist mein Weg.“
Wer sich in diesem Jahr, in dem Istanbul Europäische Kulturstadt 2010 ist, literarisch und Erkenntnis fördernd auf eine Reise an den Bosporus einstimmen möchte, dem sei Joachim Sartorius Büchlein Die Prinzeninseln empfohlen. Bezaubernde Leseunterhaltung und mit 127 Seiten überdies im perfekten Format fürs Handgepäck.
Joachim Sartorius: Die Prinzeninseln. Mareverlag. 127 S., geb., 18 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.