Junge Rabauken, engstirnige Alte
Das türkisch-deutsche Theaterfest Diyalog im Ballhaus Naunynstraße will Klischees aufbrechen
Lobende Worte für die Theaterkunst sind selten geworden in unserer Zeit. Der Kreuzberger Schauspieler Mürtüz Yolcu findet sie noch. »Das Theater hat uns die Möglichkeit gegeben, unsere Probleme zu artikulieren und uns selbst zu erkunden. Wir haben durch das Theater unser Fremdsein in Deutschland bearbeiten können, den Verlust der Heimat, das Verhältnis zu unseren Kindern und die Realität der Zweisprachigkeit«, erzählt der deutsch-türkische Theateraktivist. Kurz nach dem heißen deutschen Herbst 1977 ist er – aus den damals politisch noch viel heißeren türkisch-kurdischen Verhältnissen kommend – in Berlin eingetroffen.
In der Theaterwerkstatt der Volkshochschule Kreuzberg hat er damals seine politisch-ästhetische Heimat gefunden. Aus dieser Keimzelle sind später das Tiyatrom und die Gruppe Diyalog als wichtigste Institutionen türkisch-deutschen Theaters entstanden. Yolcu meint, dass auch seine Kinder und die Kinder seiner Mitstreiter durch das Aufwachsen in dieser besonderen Kultur des Suchens und Diskutierens profitiert hätten und zu prächtigen Menschen herangereift seien.
Von diesem reichen Quell gibt Yolcu regelmäßig ab. Seit 15 Jahren organisiert er das türkisch-deutsche Theaterfestival Diyalog. Vom 9.-30. April hat es im Ballhaus Naunynstraße seine gewohnte Heimstätte. Yolcu verspricht ein Theaterfest für Türken und Deutsche, Ausländer und Inländer, vor allem aber eines für die ganze Familie. Denn traditionell sind Kinder- und Jugendtheaterstücke in das Programm integriert.
Hauptaspekt des Festivals ist das Aufbrechen von Klischees. Denn die hat Yolcu, der gegenwärtig am Berliner Ensemble als Tatar in Gorkis »Nachtasyl« agiert, auch aus beruflichen Gründen satt. In jungen Jahren hat er in deutschen Filmen meist den wilden Rabauken darstellen müssen, der nur proletarischen Migrantenslang draufhat, ständig unter einem Adrenalinstrom vibriert und der großen Schwester mit Gewalt ihren Weg in die liberale westliche Gesellschaft verbauen will. Jetzt wird der 49-Jährige meist als der Vater dieser Figur besetzt. Der muss dann ähnlich engstirnig, ähnlich rückwärtsgewandt, ähnlich patriarchalisch strukturiert auftreten.
Bei Diyalog »kann der Türke auch mal Mensch sein«, erklärt Yolcu daher. Er werde nicht immer nur auf das wandelnde Klischee reduziert, zu dem ihn die deutsche Öffentlichkeit mache, sondern komme in seiner ganzen differenzierten Erscheinung vor. Yolcu empfiehlt unter anderem den Besuch von »Muhabir – Der Reporter«. Hier stellt der Performer und Ex-Journalist Memet Ali Alabora einen Fernsehmann dar, der auf den Laufsteg von Cannes und in den Gazastreifen geworfen wird und sich dabei intelligenter schlägt als sein kasachisches Satire-Pendant Borat.
In seinem Soloprogramm »Türkenhimmel« nimmt der Kabarettist Mussin Omurca den Patriotismus der Türken, aber auch den der Deutschen aufs Korn. Voller Vorfreude verweist Yolcu aber auch auf die Musikercombo der aus Anatolien stammenden Brüder Metin und Kehmal Kahraman. »Die kommen wirklich aus dem Osten und sind keine Absolventen des Istanbuler Konservatoriums«, stellt er deren Authentizität heraus.
Ebenfalls im Programm sind Eigenproduktionen des Ballhauses Naunynstraße wie »Das Märchen vom letzten Gedanken« über das türkische Massaker an den Armeniern oder »Die Schwäne vom Schlachthof«, die den Mauerfall aus türkischer Perspektive erzählt. Die Kreuzberger Institution Diyalog und das neue Ballhaus unter der Intendanz von Shermin Langhoff vereinen sich hier glücklich. »Shermin ist die erste, die das Ballhaus zu einer echten Spielstätte gemacht hat«, lobt Yolcu seine neue Hausherrin. Jetzt hofft er, dass in diesem Jahr mehr als die üblichen 5000 Besuchern kommen. Für die Künstler wäre dies gut. Sie spielen allesamt nur auf Eintritt – und der Senat schmückt sich mit einem Produkt, das ihn wenig kostet.
9.-30.4., Ballhaus Naunynstraße, www.ballhausnaunynstrasse.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!