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Leiche in der Themse
William Boyd sorgt mit »Einfache Gewitter« für Spannung
Romane müssen starke Geschichten erzählen«, sagte William Boyd bei einer Lesung in Berlin. 1952 in Accra geboren und in Ghana und Nigeria aufgewachsen, lebt er heute in Chelsea und Frankreich. Sein Werk, bislang 16 Veröffentlichungen, umfasst verschiedene Genres. Unter anderem schreibt er Drehbücher. »Einfache Gewitter« ist sein zehnter Roman, ein Krimi. Hochspannend, humorvoll, ironisch und voll überraschender Wendungen präsentiert Boyd ein Gewimmel von Charakteren in einer Vielzahl von Erzählsträngen. Es gibt viele in den Plot eingewobene Geschichten und Anspielungen auf wieder andere Geschichten. Fast jeder Name birgt mindestens eine fiktive oder reale Vita.
Das Abenteuer beginnt mit Adam Kindred, ein britischer Klimaforscher, der nach Jahren in Amerika und einer gescheiterten Liebe nach England zurückkehren möchte. Kaum angekommen in London, wird er zum Zeugen des Mordes an Philip Wang, der als Entwickler neuer Medikamente für den Pharmakonzern Calenture-Deutz arbeitet. Natürlich ist er unschuldig. Dennoch jagt ihn die Polizei als Mörder, und die wahren Killer versuchen ihn zu beseitigen, weil sie glauben, dass er wichtige Unterlagen an sich genommen habe. Kindred bleibt nur eine Chance: Er muss seine Identität – einschließlich seines Handys und seiner Kreditkarten – aufgeben.
Auch das Leben des Firmenchefs von Calenture-Deutz Ingram Fryzer – klangliche Assoziationen bei den Namen seiner Protagonisten sind bei Boyd nie Zufall – gerät aus den Fugen. Seinem lukrativen Geschäft droht die Übernahme durch den von Alfredo Rilke geführten Konkurrenzkonzern in den USA. Dass es bei den Tests zum neuen Asthma-Mittel Zembla-4 nicht koscher zugeht, wundert in diesem Kontext ebenso wenig, wie die Tatsache, dass Fryzers Ehe und sein Ego zu zerbrechen drohen.
Der Ex-Irak-Soldat und jetzt für einen dubiosen Sicherheitsdienst arbeitende Jonjo Case schleppt ebenfalls seine eigene Vergangenheit und Gegenwart mit auf die Jagd nach Kindred. Und dann sind da noch die Prostituierte Mhouse und ihr Sohn Lyon, die mysteriöse Sekte der »Church of John Christ« mit ihrer Suppenküche, und Rita Nashe, eine junge Wasserschutzpolizistin, die mit ihrem Vater auf einem Hausboot auf der Themse lebt. Die Struktur des Romans findet sich treffend beschrieben im einleitenden Zitat aus dem – vermutlich auch fiktiven – Fachbuch der Gewitterforscher Sax & Watson, Storm Dynamics and Hail Cascades: »Einfache Gewitter … [die] sich zu Multizellengewittern von unbegrenzter Komplexität aufbauen können«.
Inspiriert zu diesem Roman habe ihn, so Boyd, die Information, dass jährlich 60 Leichen aus der Themse bei London gefischt werden, meist in der Nähe von Greenwich. Und natürlich ist die Leiche im Fluss ein adäquates Leitmotiv für einen Krimi. Kindred lässt sich mehrere Wochen lang unter einer Themsebrücke nieder. Boyd reizte überdies die Idee, den Absturz eines Mannes von der Spitze der Gesellschaft in die Tiefe der Namenlosen literarisch zu beschreiben. Nicht weniger fasziniert ihn das Spiel mit der Sprache – der Slang im Slum ist ebenso erfunden, wie die Medikamente, um die es geht. Dass sowohl die Worte als auch die Markennamen so authentisch klingen, hat vermutlich damit zu tun, dass mafiose Machenschaften in der Pharmaindustrie heute niemanden mehr überraschen.
»Einfache Gewitter« ist auch ein Roman über London, über die Identität der Großstadt und ihrer Bewohner. Es geht um Geld, Korruption, die Möglichkeit, zu verschwinden und sich neu zu erfinden. William Boyd gehört zu den Autoren, deren aktuelle Bücher man immer mit großer Ungeduld erwartet. Auch der neue Boyd verspricht beste Unterhaltung und höchsten Lesegenuss.
William Boyd: Einfache Gewitter. Aus dem Englischen von Chris Hirte. Berlin Verlag, Berlin. 445 S., geb., 25 €.
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