»Mehr Druck für den Abzug der Truppen«
Tobias Pflüger über die Situation in Afghanistan, Angela Merkels Regierungserklärung und die Zukunft der NATO
ND: Herr Pflüger, vor einem Jahr haben Sie konstatiert, dass sich seit dem Einmarsch der NATO-Truppen in Afghanistan die humanitäre Lage dort verschlechtert habe. Wie ist die Lage heute?
Pflüger: Die humanitäre Situation für viele Menschen hat sich erneut verschlechtert. In den meisten Regionen herrscht eine ständige Kriegssituation. Das gilt nicht nur für die Provinzen im Süden, sondern mehr und mehr auch für die Regionen, in denen die Bundeswehr stationiert ist. Der Krieg wird für die Afghanen immer mehr prägend.
Die Bundesregierung hat bisher kein festes Datum genannt, die Truppen vom Hindukusch abzuziehen und hält an dem Kampfeinsatz fest. Verkennt man die Koalition die Situation vor Ort?
Mein Eindruck ist, dass den Verantwortlichen in der Bundesregierung zunehmend klar wird, wie sich die Lage zuspitzt. Als falsche Schlussfolgerung wurde das Bundeswehrkontingent erneut erhöht. Fest steht: Afghanistan kann nicht durch mehr Krieg befriedet werden. So wie die Besatzungstruppen agieren, bedeutet das auch, dass der Widerstand stärker wird. Ein sofortiger Abzug aller NATO-Truppen aus Afghanistan ist Voraussetzung für eine neue, bessere Entwicklung vor Ort.
NATO-Generalsekretär Rasmussen glaubt weiter an den Erfolg der Mission. »Viele Länder haben in diesem Einsatz Soldaten verloren, aber in diesem Jahr machen wir Fortschritte«, sagte er. Wie kommt Rasmussen zu dieser Auffassung?
Der Satz kann ja zynisch verstanden werden. Im militärischen Bereich werden tatsächlich »Fortschritte« gemacht, man führt intensiver Krieg. Das bedeutet aber nicht, dass die NATO das Land irgendwie unter Kontrolle hätte.
»Wer heute einen sofortigen Rückzug fordert, der handelt unverantwortlich«, sagte Kanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung vor dem Bundestag. Sind Ihre Forderungen unverantwortlich?
Genau das Gegenteil ist der Fall. Unsere Forderung nach einem schnellstmöglichen Abzug ist verantwortlich im Sinne der afghanischen Bevölkerung und auch im Sinne der Bundeswehrsoldaten. Unvernünftig dagegen ist jeder weitere Tag, an dem Besatzungstruppen dort stationiert sind. Wer Soldaten nach Afghanistan schickt, hat Menschleben auf dem Gewissen. Deshalb ist der Vorwurf der Unverantwortlichkeit an diejenigen, die von Anfang an gegen den Krieg waren, infam.
Selbst Verteidigungsminister zu Guttenberg (CSU) spricht jetzt von einem Krieg. Schon wird ein neues Mandat von der sozialdemokratischen Opposition ins Spiel gebracht. Was halten Sie davon?
Die SPD hat den Kriegseinsatz mit den Grünen begonnen und auch für das jetzige Mandat gestimmt. Allerdings scheint sich innerhalb der Sozialdemokratie wirklich etwas zu bewegen. Das hat mit der Stimmung in der Bevölkerung zu tun, denn dieser Kriegseinsatz hat bekanntlich keine Mehrheit. Ich begrüße die kritischen Stimmen in der SPD und hoffe, dass es noch mehr werden. Unabhängig davon ist es richtig zu überprüfen, inwieweit das, was auf dem Papier steht, mit dem, was vor Ort passiert, tatsächlich übereinstimmt. Doch die Situation in Afghanistan wird sich durch ein neues Mandat nicht verbessern.
Im Interview vom letzten Jahr nennen Sie die NATO ein »Instrument der Beherrschung anderer Staaten und Weltregionen«. Wenn die Mission in Afghanistan scheitert – ist die NATO dann am Ende?
Wenn der Einsatz scheitert, steht – so sagt es zum Beispiel Angela Merkel – die gesamte NATO zur Disposition. Das ist ein wesentlicher Grund, warum die Besatzer immer intensiver Krieg führen. Es wird alles daran gesetzt, die NATO zu erhalten. Die vaterländische Rhetorik, die nach dem Tod von Bundeswehrsoldaten vor allem von Merkel und zu Guttenberg zu hören war, wird noch zunehmen. Ich gehe davon aus, dass der Krieg im Sommer weiter verschärft werden wird und es dann noch mehr Tote – auch deutsche Soldaten – geben wird. Wir müssen auch deshalb immer stärker auf den Abzug der Truppen drängen.
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