Demografie als Sündenbock

Hauptstadtkongress diskutierte über Gesundheit und Alter

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.
Wachsende Lebenserwartung muss nicht selten als Begründung für den Kehraus bei den Sozialsystemen herhalten. Ob das gerechtfertigt ist, diskutierten Experten auf dem »Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit 2010«, der heute in Berlin zu Ende geht.

Wer soll die Renten von Morgen bezahlen? Sozialstaat in der Sackgasse! Deutschland auf dem Weg zur Greisenrepublik. Die Bombe tickt! Solche und ähnliche Schlagzeilen – die meisten stammen aus den 50er Jahren – haben uns über Jahrzehnte geprägt. Sie sollten und sollen immer noch Verständnis für den Umbau der Sozialsysteme wecken, der letztlich auf zusätzliche Belastungen der einzelnen Menschen hinausläuft. Die Gesetzliche Krankenversicherung mit ihren milliardenschweren Finanzlöchern ist ein gutes Beispiel dafür. Jede Sanierungsidee schmälert den Leistungskatalog und erhöht die Ausgaben für die Versicherten.

Gegen diese »Sündenbockdemografie« wendet sich Gerd Bosbach von der Fachhochschule Remagen. Er verweist auf die weitgehend parallel zum Bruttoinlandsprodukt verlaufende Ausgabenentwicklung bei den Gesundheitskosten. Die Ausgaben, so seine These, seien nicht das Problem, sondern die Einnahmen. Sie blieben eindeutig hinter den Erfordernissen zurück. Die Finanzierung des Gesundheitssystems habe sich seit Bismarck nicht gewandelt, wohl aber die Strukturen in der Gesellschaft. Es gebe inzwischen viele Menschen, die von Kapitaleinkünften lebten. Der Vorschlag, diese Einkommen zur Bezahlung der Krankheitskosten mit heranzuziehen, werde allerdings nicht aufgegriffen. Angesichts wachsenden Reichtums und einer Arbeitslosenzahl, die sich ungeschönt bei fünf Millionen Menschen bewege, frage er sich, wieso dazu aufgefordert werde, den Gürtel enger zu schnallen: »Wie kann man sagen, die demografische Entwicklung ist das Problem?« Bosbach bezweifelt, dass wissenschaftlicher Fortschritt und steigende Lebenserwartung zu höheren Kosten der Gesunderhaltung führen. In den letzten Jahrzehnten hätte die Gesellschaft ökonomisch erfolgreich bewältigt, was sie heute beklage. Die Arbeitszeit sei von 60 auf 40 Wochenstunden gesunken, der Urlaub habe sich verdreifacht und die Arbeitsbedingungen verbessert. Von 1960 bis 2004 stieg die Lebenserwartung um neun Jahre, bis 2050 rechnet man mit einem Anstieg um weitere sieben bis neun Jahre. Die Herausforderung sei folglich nicht gewachsen.

1960, erinnert Bosbach, seien Krampfadern während eines zweiwöchigen Krankenhausaufenthaltes operiert worden, heute erfolgte dies ambulant. Das Röntgen war schädlicher und die Geräte waren teurer, bildgebende Verfahren mittels Computertechnik weitgehend unbekannt. Ein Arzt war im Durchschnitt für ca 800 Patienten da, heute kümmert er sich um ein Drittel. Sein Fazit: Die demografische Entwicklung sei nachrangig und lenke davon ab, dass man sich nicht an strukturelle Probleme heranwagen wolle. Darüber hinaus gingen alle Szenarien der Kostenexplosionen durch Überalterung davon aus, dass die Menschen jedes gewonnene Lebensjahr in Krankheit oder Pflegebedürftigkeit verbringen. Dies sei eindeutig nicht der Fall. Die Konstitution der älteren Generation sei wesentlich besser und Gebrechen setzten später ein.

Für Thomas Ballast vom Verband der Ersatzkassen ist die Entwicklung der Lebenserwartung vor allem eine Herausforderung für die Strukturen in der Krankenversicherung. Junge Menschen brauchten Prävention und ältere wollten vor allem Beschwerdefreiheit. Darauf müsse man sich einstellen. Er verwies darauf, dass 80 Prozent der Krankheitsausgaben in den letzten Lebensjahren entstehen.

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