• 65 Jahre Befreiung

Abgebrochene Leben

Noch kurz vor Kriegsende starben Soldaten einen sinnlosen Tod. Im Stadtarchiv Ibbenbühren finden sich Nachlässe

  • André Hagel
  • Lesedauer: 7 Min.
In dem bei Osnabrück gelegenen Ibbenbüren endete der Zweite Weltkrieg um Ostern 1945. Doch bevor die Briten die Kleinstadt besetzten, wurden noch unzählige deutsche Soldaten in sinnlosen Kämpfen verheizt. Die Nachlässe der Gefallenen werden inzwischen sortiert und katalogisiert. Die bis heute aufbewahrten Funde berichten in Fragmenten vom Schicksal der Toten.

Der Frühling des Jahres 1945 kam unerwartet schnell. Bereits Mitte Februar stieg das Thermometer im Tecklenburger Land auf Temperaturen, die es erlaubten, sich in lockerer Kleidung im Freien aufzuhalten. Die Bauern in dem wenige Kilometer südwestlich von Osnabrück verlaufenden Landstrich wollten die günstigen Umstände nutzen, brachten die Saat zügig in den Boden.

Das Aufblühen der Natur ließ auch bei den Menschen Hoffnungen keimen. Hoffnungen auf ein Ende des Krieges, das nur noch eine Frage der Zeit schien. Hoffnungen auf Frieden. Im Frühjahr 1945 war der von Hitler vom Zaun gebrochene Zweite Weltkrieg längst an seinen geografischen Ausgangspunkt zurückgelangt. Die alliierten Armeen standen tief in Deutschland, trieben die erschöpften und demoralisierten Reste von Hitlers Wehrmacht vor sich her. Das »Dritte Reich« lag in den letzten Zuckungen, Deutschland versank in einem Zustand von Auflösung, Anarchie und Standgericht-Terror. Alte und Jugendliche wurden an die Front geworfen, nicht mehr um irgendetwas zu retten, sondern nur noch um zu sterben. In diesem Frühling des Jahres 1945 stand das Fanal des deutschen Untergangs an der Wand.

Michael Kriege blickt auf die Platte seines Esszimmertisches. Auf diesem liegen, aufgestapelt und nebeneinandergereiht, kleine Holzkisten, mit Bändern geschnürte Päckchen und großformatige Briefumschläge. Der Inhalt ist immer derselbe: Papiere und Portmonees, Briefe und Schreibutensilien, Bezugsmarken für Nahrungsmittel, Rasierklingen. Einiges ist stark mitgenommen, wieder anderes erstaunlich gut erhalten, bedenkt man, dass es sich bei diesen Dingen um die Nachlässe solcher Wehrmachtssoldaten handelt, die bei den Endkämpfen des Zweiten Weltkrieges in Ibbenbüren den Tod gefunden haben. »Wir kennen Krieg ja nur noch aus dem Fernsehen«, sagt Kriege, während er den Inhalt der Umschläge, Kistchen und Päckchen nacheinander fein säuberlich vor sich ausbreitet, vorsichtig und immer darauf bedacht, dass nichts durcheinandergerät. »Mein Vater wurde noch als 17-Jähriger zur Wehrmacht eingezogen und hat als Soldat das letzte halbe Jahr des Zweiten Weltkrieges mitgemacht. Mein Sohn ist heute im gleichen Alter. Wenn ich daran denke, er könnte ebenfalls in so etwas verstrickt sein…« Der 50-jährige Chemiker beendet den Satz nicht. Nachdenklich schaut er auf die Gegenstände, die er gerade aus einem DIN-A-4-Umschlag herausfischt.

Michael Kriege befasst sich nicht ohne Grund mit dem, was von jenen deutschen Soldaten geblieben ist, die um Ostern 1945 in den Kämpfen um das im Tecklenburger Land gelegene Ibbenbüren verheizt wurden. Gemeinsam mit einer Mitarbeiterin des Ibbenbürener Stadtarchivs hat der als ehrenamtlicher Stadtführer Arbeitende die Nachlässe gesichtet und katalogisiert. Unter Umständen sollen sie später Aufnahme in das Museum der Stadt finden, deren Charakter neben einer malerischen Landschaft von einer Steinkohlezeche geprägt wird.

Zu Ostern 1945 erreichten britische Panzer den Dortmund-Ems-Kanal in Höhe von Riesenbeck und Ibbenbüren-Dörenthe. Am Freitag nach Ostern wurde die Bergmannstadt Ibbenbüren endgültig von den Briten besetzt, nachdem sie zuvor mehrere Tage lang von Artillerie unter Beschuss genommen worden war. Bis heute zeugen in der Ibbenbürener Innenstadt Mauerwerkabsprünge und Einschusslöcher in metallenen Grabskulpturen von den Kämpfen in den ersten Tagen jenes April.

Die mit der Nummer 14 gekennzeichnete alte Zigarrenkiste, die ursprünglich 100 Zigarren zu je zehn Reichspfennig das Stück beinhaltete, wie eine Aufschrift verrät, gibt beim Öffnen ein wahres Sammelsurium unterschiedlichster Kleingegenstände preis. Nachlass ist ein großes Wort für das, was sich dem Auge des Betrachters präsentiert. »Es ist das, was die Soldaten am Leibe trugen, als sie fielen«, erklärt Michael Kriege.

Im Falle der kleinen Holzkiste bedeutet Nachlass im Einzelnen: eine teilweise abgelochte Bezugskarte für Kantinenwaren der motorisierten schweren Artillerie-Ersatzabteilung 290 der Wehrmacht; eine so genannte Raucherkarte; ein mit dem Morsealphabet bedruckter Zettel; ein Ausriss aus einem so genannten Ahnenpass, auf dem dessen Besitzer mit mehreren Buntstiften seinen Namen geschrieben hat; ein Emaillefeuerzeug; Postbenachrichtigungszettel; zwei Briefumschläge für Feldpost; eine Pfeife; ein Zettel mit einer Adresse in Berlin; eine kleine Schere; eine Packung Nähnadeln mit dem Kopf eines Soldaten und dem Markenaufdruck »Kamerad«; ein Metallkamm; ein Messer, welches sich auch nach all den Jahrzehnten als scharf erweist; ein grüner HB-Bleistift Marke Faber Castell; ein braunes Lederportmonee ohne Inhalt; schließlich ein Vorhängeschloss mit Hosenträgerhalter. »Fast jeder der Soldaten hatte ein solches Vorhängeschloss bei sich«, erzählt Kriege. Die Schlösser dienten dazu, im Falle eines Falles die wenige Habe am Körper zu behalten – und als Sicherung gegen Kameradendiebstahl.

Was Michael Kriege aus den Kisten, Umschlägen und in Packpapier eingeschlagenen Päckchen zutage fördert, erzählt in Fragmenten aus dem abgebrochenen Leben der Gefallenen. Für »Führer, Volk und Vaterland« in den Tod Gejagten, die nach dem Ende der Kämpfe zunächst wo man sie fand bestattet wurden, zum Teil in Ibbenbürener Vorgärten, in aller Eile und nicht immer sorgfältig. Zeitzeugen erinnerten sich später daran, dass teilweise noch Stiefel oder Füße aus dem Boden ragten.

Im weiteren Frühjahr 1945 wurden die Toten schließlich exhumiert, um sie zu identifizieren und in würdigerer Weise zu beerdigen. Von denen, die nicht zu identifizieren waren, nahmen aus dem rund 40 Kilometer entfernten Münster herbeigeholte Zahnärzte Kieferabdrücke, um zu einem späteren Zeitpunkt Abgleiche vornehmen zu können. Die bei den Soldaten gefundene persönliche Habe wurde gesammelt und schließlich der Versuch unternommen, Angehörige zu ermitteln.

Nicht selten blieb die angefragte Rückmeldung aus. Manche Familie hatte es in den Wirren des Kriegsendes selbst an unbekannte Orte verschlagen. Einige der Benachrichtigungen dürften zudem unterwegs verlorengegangen sein. »Für 16 der gefallenen Soldaten interessierte sich nachweislich niemand mehr«, fasst Kriege zusammen. Es sind nicht zuletzt ihre Habseligkeiten, die der Chemiker zusammengetragen hat.

Besonders berührend ist hierbei nicht zuletzt die karge Habe eines gänzlich unbekannt gebliebenen Soldaten, die im Wesentlichen aus zwei Briefmarken zu je 12 Pfennigen – Dauermarken mit dem Porträt Adolf Hitlers – sowie aus einer begonnenen Postkarte besteht. »Liebe Eltern!«, grüßt der Schreiber auf der Rückseite der mittlerweile stark vergilbten Karte, deren vordere Seite mit einem gemalten Cellospieler bedruckt ist. »Bin gerade auf dem«. Hiernach bricht der Text unvermittelt ab. Er wurde nie vervollständigt.

Der weit umfangreichere Nachlass des Wehrmachtsangehörigen Max Ruppelt steckt in einem großformatigen Briefumschlag mit dem Aufdruck der Ibbenbürener Stadtverwaltung. Er ist mit der Nummer 4 versehen und enthält neben einer Leselupe, zwei zerknitterten Fünf-Reichsmark-Scheinen, einem Brillenetui samt Hornbrille, einem wahrscheinlich der Einstellung eines Geschützes dienenden Winkelmesser sowie anderen Utensilien mehrere Briefe, die durch Wassereinwirkung stark angegriffen sind. Kriege hat einige der Schreiben transkribiert. Unter dem Datum des 5. März 1945 schreibt Ruppelt etwa ein befreundeter Soldat vom Durchhalten und von der Hoffnung auf einen »Endsieg« Deutschlands: »Ich hoffe es wird noch ein Schlag kommen, welcher unsere Rettung sein wird. Falls dies nicht eintritt sehe ich schwarz.«

Andere Briefe wiederum legen nahe, dass der verheiratete Ruppelt eine Geliebte gehabt haben könnte, die sich von ihm ein Kind wünschte: »Wieder ein paar Zeilen, dachte du hättest mich schon mal wieder besucht, aber leider ist alles Warten vergebens gewesen«, schreibt ihm die Frau am 19. Februar 1945 aus Hildesheim. »Sonst ist noch alles beim Alten, ich glaube schon nicht mehr daran, das ich ein Kind kriege, dieses lange Warten macht einen bei Kleinen kopflos. Und dann diese vielen Alarme jeden Tag und jede Nacht im Keller, man sollte bald verzweifeln.« Später erhält der Soldat einen auf den 28. Februar 1945 datierten Brief derselben Frau, diesmal aus dem nahe Hildesheim gelegenen »Kleingiesen« (Klein Giesen): »Teile dir mit das ich wieder zu Hause bin, wirst wohl gehört haben das Hildesheim schwer was abgekriegt hat; na kannst dir ja denken das ich da keine Ruhe mehr in Hildesheim hatte. (…) Ich dachte du wärest Sonntag gekommen, aber alles Warten war vergebens.«

Mit Datum vom 15. März erreicht Max Ruppelt der Brief einer Bekannten aus Niederbrabitsch, der vermuten lässt, dass Ruppelts Frau aus dem oberschlesischen Hindenburg vor der nahenden sowjetischen Roten Armee hat fliehen müssen: »Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie von Ihrer lieben Frau keine Nachricht haben und ich kann Ihre Sorge um sie gut verstehen. Hier im Haus wohnt eine Hindenburger Familie, die dort direkt am Bahnhof wohnte, wie ich hörte, wurden dort Frauen und Kinder zuerst in Sicherheit gebracht. Sie müssen nun weiter hoffen, dass Sie sich doch eines Tages wieder finden werden.«

Das Schicksal von Ruppelts Frau blieb ungewiss. Seines erfüllte sich in den Tagen um Ostern 1945 in Ibbenbüren. In einem Frühjahr, das schneller kam als der Frieden.
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