- Kommentare
- Gastkolumne
Wer nicht feiert, hat verloren!
Eine Referendarin erhielt vor einigen Jahren bei einer Lehramtsprüfung ein Ungenügend, weil sie den 8. Mai zu »einseitig« als Tag der Befreiung dargestellt und damit den Schülern ihre Meinung »oktroyiert«, also aufgezwungen habe. Nicht nur an dieser Fehlentscheidung zeigt sich, wie geschichtspolitisch umstritten der 8. Mai in seinen unterschiedlichen Zugängen als Tag der Befreiung, des Kriegsendes, der Kapitulation, der Stunde Null und anderen Zuschreibungen gedeutet wird.
Auch wenn ihn Richard von Weizsäcker vor 25 Jahren für die (West)Deutschen zum Tag der Befreiung geöffnet hat, blieb dieses verbale Bekenntnis ohne nachhaltige Folgen. Bis heute ist der 8. Mai in der Bundesrepublik, mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern, kein offizieller Gedenktag. Versäumte Gelegenheiten gab es zur Genüge. Als gesamtdeutscher Gedenktag hätte er ein erinnerungspolitisch bedeutsames Zeichen im sich vereinenden Deutschland und ein Signal der Versöhnung gegenüber der Sowjetunion und den anderen europäischen Völkern sein können. Stattdessen geriet der 8. Mai mehr und mehr zu einem »Volkstrauertag« für deutsche Opfer von Krieg, Flucht, Vertreibung und Gewaltherrschaft. Dafür steht auch das von Schwarz-Gelb vehement vorangetriebene Projekt eines »Zentrums für Vertreibung«, die unselige Verquickung von deutscher Täter- und Opferschaft.
In vielen Ländern Europas ist der 8. bzw. 9. Mai ein Tag der Erinnerung und des Gedenkens an den mit Millionen Opfern errungenen Sieg über den Hitlerfaschismus. Jetzt zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab. Von der deutschen Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen fordert eine Entschließung des Europaparlaments vom April 2009 dazu auf, den 23. August 1939, den Tag der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes, als Gedenktag für die »Opfer aller totalitären und autoritären Regime« zu begehen. Damit soll der Tag der Befreiung als Zeichen einer die Europäer verbindenden Identität entsorgt und die Geschichte des 20. Jahrhunderts in gleichsetzender Perspektive »totalitärer« Bedrohungen von Kommunismus und Faschismus umgedeutet werden.
In großer Sorge protestieren Organisationen ehemaliger Widerstandskämpfer, Partisanen, Angehöriger der Antihitlerkoalition, Verfolgter des Naziregimes und Antifaschisten heutiger Generationen aus über zwanzig Ländern Europas und Israels dagegen, dass der Sowjetunion die gleiche Verantwortung an der Entfesselung des zweiten Weltkrieges wie Hitlerdeutschland zugewiesen wird.
Die Rote Armee und die Völker der Sowjetunion trugen im Bündnis mit den Alliierten den Hauptteil der zivilen und militärischen Anstrengungen zur Überwindung faschistischer Barbarei. Ihre millionenfachen Opfer bleiben unvergessen.
Seit 1990 erinnern Mitglieder unseres Verbandes im Mai eines jeden Jahres gemeinsam mit vielen Menschen in vielfältigen Veranstaltungen an die Befreiung Berlins. So auch heute Nachmittag am Sowjetischen Ehrenmal in Treptow. Morgen findet dort ein Fest zum 65. Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus statt. Gemeinsam mit Russen, Weißrussen, Ukrainern, Berlinerinnen und Berlinern vieler Nationen, denn: Wer nicht feiert, hat verloren!
Der Historiker ist Vorsitzender der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.