Schach im Park, Schlacht im Staat

Schach-WM in Bulgarien vor dem Finale, doch der Kampf im Land geht weiter

  • Michael Müller, Sofia
  • Lesedauer: 6 Min.
Faires Spiel: Amateure im Sofioter Stadtpark
Faires Spiel: Amateure im Sofioter Stadtpark

Zizo zeigt Nerven. Die Zuschauerrunde rückt voller Spannung noch etwas dichter zusammen. Trifon hat mit Schwarz im Endspiel plötzlich drei Bauern mehr. Nun wieder Weiß. »Gib auf!«, ruft einer von hinten. Doch Zizo zieht Df2, opfert seine Dame und rettet sich damit urplötzlich noch in ein Patt.

Der Kreis um das steinerne Schachbrett im Stadtgarten von Sofia löst sich fachsimpelnd auf. Die meisten Kiebitze wenden sich sofort anderen Spielern an den Nachbartischen zu. Zizo und Trifon drücken sich indes fair die Hand. So wie sie spielen in diesen Frühlingstagen des nachmittags täglich Hunderte in den Parks der bulgarischen Hauptstadt. Trifon ist extra aus Swilengrad angereist. »Zum einen, um mir für uns zu Hause ein bisschen abzugucken, wie das hier im Freizeitschach so läuft. Zum anderen habe ich eine Dauerkarte für den WM-Kampf.« Und er ist damit der einzige in der Runde.

Nur drei Fahnen

Nur ganze fünf Minuten zu Fuß vom rustikalen, bunten Amateurtreiben entfernt duellieren sich gerade Titelverteidiger Viswanathan Anand (Indien) und sein bulgarischer Herausforderer Wesselin Topalow. Gestern Nachmittag gab es beim Stand von 5:5 die zehnte von zwölf Partien. Der Kopf-an-Kopf-Kampf brachte der Schachwelt bisher zwei spannende Wochen. Leider ist in Sofia selbst davon recht wenig zu spüren. Außer drei Fahnen am altehrwürdigen Armeeklub, in dem gespielt wird, weisen im Stadtbild nur ein paar Werbeflächen eines Großsponsors auf das Ereignis hin.

Auch das Image des Bulgaren Topalow bei den Schachspielen im Park ist kaum das eines Lokalmatadors. Dafür hat ihn sein spanischer Wohnsitz in den vergangenen Jahren gedanklich viel zu weit entfernt. Dass er in den Medien beständig mit seinen Kosenamen »Wesko« oder »Topi« belegt wird, ändert daran nichts. Die hiesigen Zeitungen suchen bei jedem Promi derart nach wärmend-vertraulicher Nähe.

Dennoch meint Parkschachspieler Zizo: »Ich denke schon, dass unserer es packen wird.« Und Trifon fügt hinzu: »»Ja, das wäre wirklich Klasse. Die Welt, die von Bulgarien heute oft nur im Zusammenhang mit Korruption und Mafia hört, würde sehen, dass wir ein Volk mit Kultur sind.«

Da schwingt viel hoffende bulgarische Stimme des Volkes mit. Oberster Schachthron statt europäischer Katzentisch. Das wäre Labsal für die nationale Seele. Die Bulgaren würden nur zu gern zeigen, was in ihnen steckt. Doch um gleich beim aktuellen WM-Kampf zu bleiben: Sie haben, auch was Alltagskultur betrifft, derzeit ziemlich schlechte Vorbilder. Zu Beginn der feierlichen, ja geradezu pompösen Eröffnung des Weltschachchampionats hatte Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissow den indischen Titelverteidiger ignoriert. Es vergingen fast zehn Minuten, bis sich der Premier dem nur drei Plätze rechts neben ihm sitzenden Weltmeister zuwandte und zu einem Händedruck bequemte. Hans-Walter Schmitt, Teamchef bei Anand: »So etwas Ungehobeltes habe ich noch nie erlebt. Der indische Botschafter neben mir war nahe daran, die Contenance zu verlieren.« Übrigens machten sich auch gleich beide Schachkontrahenten diese prollige Art zu eigen. Erst bei der dritten Partie kehrten sie zum traditionellen Handschlag nach dem letzten Zug zurück.

Neuer Mix, alte Tradition

Eine politische Klasse, die, ruppig und effekthaschend, ganz gern auch mal unterhalb der Gürtellinie agiert, ist bulgarischer Alltag. Besonders seit die Borissow-Partei Bürger für eine Europäische Entwicklung Bulgariens (GERB) seit zehn Monaten die Fast-Alleinherrschaft im Land inne hat. Dieser Boiko Borissow (50) ist ein skandalös-muskulöser Mix aus Italiens Berlusconi und dem kalifornischen Gouverneur Schwarzenegger. Was Populismus und Pragmatismus angeht, ähnelt er indes am ehesten dem, dem er vor 1990 im staatlichen Sicherheitsapparat und nach 1990 als Chefbodyguard diente: Todor Shiwkow, jahrzehntelang der erste Mann in der Volksrepublik Bulgarien.

Diesen allgemeinen Eindruck untermauert jetzt gerade der neue Taschenbuch-Bestseller »Das Geheimprojekt Boiko Borissow« mit frappierenden Fakten. Dass der Verlag per Gerichtszensur etliche Seiten weiß lassen musste und der Dokumentator des Kapitels über Firmen- und Personengeflechte, in dessen Mittelpunkt der Premier steht, aus persönlichen Sicherheitsgründen ungenannt bleibt, macht das Buch nur noch mehr zur Bückware.

Borissows Lieblingsbeschäftigung ist die Kriminalisierung des politischen Gegners; es ist übrigens das einzige Wahlversprechen, was er bisher gehalten hat. Der Kommentator der linken Tageszeitung »Duma« spricht von einer »Schlacht im Staat«. Woche für Woche bekommt das staunende Volk im Fernsehen in Handschellen vor den Staatsanwalt geführte Ex-Minister und -Beamte der einst regierenden Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) bzw. deren Koalitionspartnerin, der »Türkenpartei« (DPS) aufgetischt. Seit kurzem liegt ein 120-seitiger, als »streng geheim« ausgegebener, aber umso fleißiger öffentlich kolportierter parlamentarischer Untersuchungsbericht über die »Tätigkeit des Kabinetts Stanischew« vor. In ihm wird der Regierung von Ex-Premier und Sozialistenchef Sergej Stanischew vorgeworfen, staatliche Verträge eingegangen zu sein, die zu über zwei Milliarden Lewa (rund eine Milliarde Euro) nicht finanziert sind. »Schreiben Sie doch mal auch so fleißig auf, was Sie so einnehmen und ausgeben«, konterte Stanischew dieser Tage bei der Debatte in der Volksversammlung.

Doch das wird kaum geschehen. Vielmehr drohen beispielsweise dem Ex-Verteidigungsminister Zonew oder der Ex-Sozialministerin Maslarowa, sollten sich tatsächlich Richter für die entsprechenden politischen Urteile finden, einige Jahre Gefängnis. Schlimmer scheint indes dies: Es mehren sich Vorwürfe von Menschenrechtsgruppen, dass »die Zuständigkeiten von Innenministerium und Polizei, besonders was Untersuchungshaft und Strafvollzug betrifft, verwischen« (Kristina Naidenowa, Vereinigung »Anna Politkowskaja«).

Dabei ist all das bisher nur die schaumgebremste staatliche Variante made in Bulgaria. Sollte die ultra-nationalistische Partei Ataka, die Borissows Macht in Parlament und Staat vertraglich und mit Eifer unterstützt, noch mehr Einfluss bekommen, dann »fliegen tatsächlich die Fetzen«. So hat es deren Frontman Wolen Siderow bereits mehrfach prophezeit. Oder auch Köpfe. Ein Ataka-Wahlplakat zeigte, wie ein starker bulgarischer Messias den Drachen mit Sozialisten- und Türkenkopf enthauptet. Es hing noch wochenlang nach der Wahl unangetastet im Sofioter Zentrum. Ataka, das gleichnamige Kampfblatt der Partei, bejubelte übrigens mit der Schlagzeile »Bulgarien – ein Beispiel für ganz Südosteuropa« die neue Machtkonstellation in Ungarn. Dort bildet bekanntlich Jobbik, eine Art Schwesterpartei von Ataka, die neue rechts-extreme Machtkomponente.

Geadelte Zustände

In den bürgerlichen bulgarischen Medien finden sich einflussreiche Kommentatoren und politische Essayisten, die diese Entwicklung im Grunde gutheißen. So konnte man es dieser Tage auch wieder in »24 Tschasa« lesen. Erst bemühte der Autor historische Parallelen von Cäsar bis de Gaulle, sogar zu Hitler, Stalin und Mussolini (»auch sie waren jeweils die Antwort auf ein Chaos im Staat«). Dann adelte er die aktuellen nationalen Zustände: »Die Wahrheit ist, dass eine Einzelmacht in einem gewissen Moment unvermeidlich und nötig ist.«

Diese Einzelmacht stellt sich derzeit in Bulgarien nach außen vor allem in Selbstbespiegelung und Aktionismus dar. Gern zeigt sich der passionierte Karatekämpfer Borissow beispielsweise mit Seinesgleichen. Oder auch mit Bodybuildern. Einen hat er sogar zur Eröffnung der Schach-WM mit auf die Bühne gebracht. Ob er denn auch 300 Kilo auf der Bank stemmen könne, fragt der Premier den Mann am Rande. Ja, sagte der, aber jetzt nicht, denn ich bin nicht aufgewärmt. Borissow nickt fachmännisch und verständnisvoll. Mit ihm an der Spitze wird sich Bulgarien wohl warm anziehen müssen.

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