Verloren in der Halböffentlichkeit
Helene Hegemann spielt sich selbst
Helene Hegemann wechselt das Genre, bleibt aber ihren Themen treu. Thema der Theaterproduktion »Axel holt den Rotkohl« im Ballhaus Ost sind das in Hegemanns Einsteigerbuch »Axolotl Roadkill« geschilderte Heranwachsen eines Mädchens in einer diskursiv überfrachteten, drogengesättigten und immer wieder mit Gewalt getränkten kleinbürgerlichen Komfortzone. Ist letztere möglicherweise nur halluziniertes Pendant, wie auch die an das Buch anschließende Debatte über das Abschreiben und die Forderung nach Selbsterfahrung für literarische Popstars? Diese Kritik fällt wegen Dämlichkeit auf die Kritiker zurück. Dass Hegemann aus Roadkill jetzt Rotkohl macht und aus Axolotl den holenden Axel, könnte als grobschlächtige Selbstpersiflage noch amüsieren. In den besseren Momenten des Abends strickt sie an diesem Motiv weiter. Etwa wenn die aus Pappe zusammengeknautschten Figuren der früher einmal als Anarcho-Puppentheater geliebten Helmis sich zu einem Chor der zornigen Blogger vereinen. Sie, die sich plagiiert fühlen, werden von der in Helenengestalt daherkommenden Katharina Schröder mit dem Hinweis auf die auch bei ihnen schon einsetzende Bürgerlichkeit hinweggefegt. Das ist ein wenig lustig, wenngleich inhaltlich billig.
Interessanter ist der kleine Kunstgriff der Stephanie Stremler. Die einst einmal in die Finalrunde zur Wahl als Schauspielerin des Jahres gekommene junge Frau verkörpert die Mifti – die pubertierende Hauptfigur des Hegemann-Oeuvres. Die Helmis haben ihr ein struppiges Schaumstoff- und Textilantlitz gebastelt. Diese Fratze platziert Stremler so vor ihrem Gesicht, dass es als ihr Antlitz erscheint. Verloren und verletzt, nur mit einem Laken bedeckt, liegt sie auf der Bühne, und natürlich klickert es im Gehirn gleich: Wer ist die Mifti, die Hässliche oder die Schöne? Und was hat die Mifti mit der Helene zu tun?
Damit ist das Sehenswerte allerdings schon fast komplett abgearbeitet. Wenn da nicht noch das Staunen darüber wäre, mit welcher Lakonie die Truppe solche das individuelle Dasein durchschauernde Ereignisse wie Vergewaltigung, Suizid und die Konfrontation mit einem Konzentrationslager abbürstet. Sind diese Jungerwachsenen so zynisch, so gefühlskalt, so über alle Exzesse erhaben? Was mag diesen grässlichen Mangel zur Empathie, und auch Selbstempathie, ausgelöst haben?
Insgesamt ist dieser Axel-Abend kaum mehr als die beleidigte Reaktion einer Autorin auf die an ihr geäußerte Kritik. Traurig stimmt, dass sie nicht die Spur jener Komplexheit, Intertextualität und Intersubjektivität enthält, die selbst die zornigsten Kritiker dem »Axolotl« zugestehen. Hegemann schreibt ihren eigenen Bildungsroman fort. In einem heftigen Schub von verbaler Inkontinenz setzt sie alles Private mit allem, was medial relevant sein könnte, in Beziehung und speit es öffentlich aus. Papa macht zum Beispiel »mit Frank in Israel Readymades«. Ein als Radiomoderator abgewickelt gewordener Taxifahrer, der früher Heiner Müller kutschierte, wurschtelt kleinen Mädchen seinen Penis zwischen die Zähne. Müller musste jetzt wirklich nicht sein.
Hegemann verwechselt die Sphäre des Anekdotischen mit dem Terrain, das Kunst sein kann. Sie sitzt dem Irrtum auf, dass Berlins öffentlich geförderte Bühnen die natürliche Fortsetzung ihres Wohn-, Kinder-, Schlaf- oder WG-Zimmers seien. Sie scheint verloren in jener Halböffentlichkeit, in der jede Privatheit zur Botschaft aufgeblasen wird, die andererseits einen Rückzug daraus aber auch nicht erlaubt. Sie verwechselt eigenes Seelenbeben mit Kunst, also einer Apparatur, die dieses bei anderen auslösen möge. Bedauerlicherweise zerrt sie auch das Puppentheater Helmi in einen Strudel des Dilettantismus hinein, dem sich allenfalls Emir Tebatebai mit gelegentlichen anarchischen Ausbrüchen zu entziehen versucht.
Weil Helene Hegemann so offensichtlich die Sphären von Privat, Kunst und Öffentlichkeit durcheinanderwirft, dass man nach dem Prominentendoktor klingeln möchte, müssten eigentlich alle Kritiken zu diesem Abend verboten werden. Denn sie verstärken diesen Prozess nur. Flugs steht man vor einem Kernproblem dieser Mediengesellschaft. Das ist dann tatsächlich interessant. Es war aber nicht das Thema dieses erbärmlichen Spektakels im Ballhaus Ost.
weitere Vorstellungen: 26, 27.5., 19., 20.6., 20 Uhr
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.