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- Thema: Israel und der biblische Mythos
Die »Anderen« unter uns
Shlomo Sand über »Die Erfindung des jüdischen Volkes«, die Doppelmoral einer Staatsgründung und die Nakba
ND: Ihr Buch hat in Israel für ziemliche Aufregung gesorgt.
Shlomo Sand: Es war wochenlang auf der Bestseller-Liste, auch in Frankreich. Ich wurde zu vielen Diskussionen eingeladen. Mein Buch wurde wohlwollend aufgenommen. Zwei Kollegen von der Fakultät »Geschichte des jüdischen Volkes« attackierten mich jedoch heftig, was normal ist, denn entsprechend der Aussage meines Buches forschen sie zu einem Gegenstand, den es nicht gibt. Auch zionistische Blogger erklärten mich zum »Volksfeind«. Ich bin als Antizionist beschimpft worden. Das bin ich nicht. Ich bin ein Postzionist. Eric Hobsbawm lobte mein Buch im »Guardian« und kürte es zum Buch des Jahres – um ehrlich zu sein, neben einem weiteren, von Hans Magnus Enzensberger. Hobsbawm schrieb, wenn Bücher die Welt verändern könnten, würde mein Buch zu jenen gehören.
Davon sind Sie auch überzeugt?
Ich habe es in der Hoffnung geschrieben, einen Beitrag zu leisten, damit Israel eine Zukunft hat. Ansonsten glaube ich nicht, dass Bücher die Welt verändern, denke jedoch, dass die Welt, wenn sie sich zu verändern beginnt, sich die dazu notwendigen Bücher sucht.
Ist Israels Zukunft gefährdet?
Ja. Durch das eigene, falsche Selbstverständnis. Israel versteht sich als Staat des »jüdischen Volkes«, eine imaginierte Ethnie. Alle, die eine jüdische Mutter haben, genießen Privilegien. Sie können in New York, Paris, Berlin leben und sich dennoch sicher sein, dass Israel für sie da ist. Wer aber keine Jüdin zur Mutter hat und in Jaffa oder Nazareth lebt, den lässt man spüren, dass der Staat, in dem er geboren wurde, nicht der seine ist. Ein Staat, der sich um die Juden in aller Welt kümmert, aber nicht um nicht-jüdische Bürger im eigenen Land, ist kein demokratischer.
Das ist ein hartes Urteil.
Nein. In einem demokratischen Staat sind alle gleichberechtigt.
Demnach wären auch andere demokratische Staaten nicht demokratisch. Und was für ein Staat ist Israel dann Ihrer Ansicht nach?
Israel ist ein sehr liberaler Staat. Grundrechte wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind garantiert. Sonst hätte mein Buch gar nicht erscheinen können. Man kann nichtzionistische Standpunkte äußern. Arabische Parteien können zu den Parlamentswahlen antreten – allerdings nur, wenn sie den »jüdischen« Charakter des Staates nicht in Frage stellen.
Den Sie negieren?
Gegenfrage: Ist Deutschland ein christlicher Staat?
Nein. Auch wenn die Trennung von Staat und Kirche in der Gesellschaft nicht immer eindeutig eingehalten wird ...
Was also ist der Unterschied?
Die Geschichte legitimiert einen jüdischen Staat.
Ein Verbrechen kann nicht ein anderes rechtfertigen. Die Opfer vorantragen, kann nicht auf ewig tragen. Und zudem: Was ist »jüdisch«, was das »jüdische Volk«?
Eine Frage der Definition. Wie grenzt man Volk von Nation ab, wie Staatsvolk von Nationalität?
»Volk« ist etwas Mythisches, eine sich aus der Vergangenheit nährende imaginäre Gemeinschaft. Im Mittelalter sprach man von Völkern; sie haben sich über die Religion definiert. Mit der Moderne betraten Nationen die Weltbühne. Um 1800 eroberte die Ideologie des Nationalismus die verschiedenen Kulturen und nutzte das Wort »Volk« zur Begründung historischer Kontinuität und Ansprüche. In israelischen Geschichtsbüchern wird »Volk« jedoch als Synonym für Nation gebraucht. Nation ist eine Gruppe von Menschen, die auf einem bestimmten Territorium leben, durch gemeinsame Sprache, Alltagskultur und gewisse Normen verbunden sind, die auch die Namen der Fußballklubs des Landes kennen, zumindest der männliche Teil, und die Souveränität über sich haben. Das ist sehr wichtig. Nicht jedes Volk wird zur Nation.
Nation ist eigentlich eine bürgerliche Agitationsvokabel.
Ein Konstrukt, das wirtschaftlicher Notwendigkeit entsprach.
Man sprich vom deutschen Volk.
Und vom französischen, italienischen ... Der Jude in Marokko oder Casablanca hat aber mit dem Juden in Tel Aviv oder Jerusalem höchstens die Religion gemeinsam. Der Einfluss religiöser Traditionen ist sicher noch groß, aber moderne, demokratische Gesellschaften definieren sich nicht über Religion, geschweige Blutsverwandtschaft.
Das ist Ihr Vorwurf an Israel?
Wer ist für Sie ein Jude? Ist Ihr Kriterium das Blut, das in den Adern eines Menschen fließt?
Nein. Ich definiere niemanden. Und ich bin überzeugt, dass alle Menschen gleichen Blutes sind.
Das ist vernünftig. Auch ich respektiere, wie sich jeder selbst sieht, spreche niemandem seine Identität ab, selbst wenn diese weder anthropologisch noch sonst wie begründet ist. Wenn einer sich Jude nennt, akzeptiere ich es. Für mich ist ein Jude indes nur der, der auch die jüdische Religion praktiziert. Sind Sie Protestantin?
Nein, Atheistin.
Mit welchen Wurzeln?
Hugenottische.
Aha. Sie würden aber nicht behaupten, Sie gehören dem Volk der Hugenotten an. Die waren übrigens wie die Juden die ersten Deutschen.
Inwiefern?
Sie haben Stadt und Land wirtschaftlich, kulturell und geistig belebt und bereichert. Sie waren ein maßgeblicher Teil des deutschen Bürgertums und der deutschen Intelligenz. Sie haben als erste Hochdeutsch gesprochen. Bayern und Sachsen können es heute noch nicht. Der Jude Heinrich Heine war deutscher als Hitler. Heine hat deutsche Kulturgeschichte geschrieben, nicht jüdische. Deshalb war es für die Juden besonders tragisch, dass sie in diesem Land dann nicht mehr geduldet waren. Kommunisten und Sozialdemokraten wussten, warum sie im KZ waren, die Juden nicht. Sie waren doch auch Deutsche. Wer deutsch ist, bestimmt doch nicht das Blut.
Nach Meinung der Zionisten aber sind Juden ein Volk von homogenem biologischen Ursprung, verbunden durch die »Bande des Blutes«. Das verneine ich. Und dennoch: Nach Hitler kann man Menschen das Bedürfnis, sich Juden zu nennen, nicht verwehren.
Ich habe mit Shoah-Überlebenden gesprochen, die sich vor Hitler selbst nicht als Juden sahen, aber heute bekunden, sich solange als Juden zu bezeichnen, wie es auch nur einen Antisemiten gibt.
Das ist sehr schön gesagt, das stammt von Ilja Ehrenburg. Ich aber lebe in einem Staat, in dem die Juden privilegiert sind. Und deshalb sage ich: Ich werde mich erst dann einen Juden nennen, wenn mein Staat ein demokratischer, für alle offener Staat ist.
Bis dahin sind Sie ein ....?
... ein Israeli mit jüdischen Wurzeln. Ich schäme mich ihrer nicht, trage sie jedoch auch nicht stolz vor mich her. Ich bin nicht in Israel geboren, aber das ist mein Land. Es ist ein schönes Land, ich liebe es. Ich lehne jedoch strikt jede Identität ab, die sich in Abgrenzung und zu Lasten »Anderer« definiert, deterministisch festlegt, wer dazugehört und wer nicht, und damit dem Individuum das Recht auf Selbstbestimmung abspricht. Ich kann eine jüdische Solidarität nicht gutheißen, die sich separiert und »Andere« diskriminiert oder mit Verweis auf eine mythische Vergangenheit deren Land wegnimmt. Ich habe nichts gegen jüdische Solidarität, aber etwas gegen blinde Unterstützung israelischer Aggressions- und Besatzungspolitik.
Kritik an dieser wird in Deutschland schnell mit dem Stigma Antisemitismus belegt. Selbst wenn diese von – wie auch immer definierten – Juden geäußert wird. Kann ein Jude Antisemit sein?
Karl Marx stammte aus jüdischer Familie. Er war kein Antisemit. Aber in seinen Schriften finden sich antisemitische Bemerkungen. Stupid. Man nahm Marx als Beispiel für einen Juden, der sich selbst hasst. Aber das zeigt nur: Selbst ein großer Mann wie Marx kann Unsinn schreiben.
Um ein jüngeres Beispiel zu bemühen: Norman Finkelstein wurde dieses Jahr von verschiedenen deutschen Stiftungen ausgeladen.
Ich war geschockt, dass man ihm nicht das Recht eingeräumt hat, zu reden, seine Standpunkte zur Diskussion zu stellen. Nun gut, Finkelstein schrieb einige Sätze, die ich nie schreiben würde. Er hat überzogen, aber seine Botschaft ist klar und richtig.
Angesichts der langen nahöstlichen Tragödie: War die Teilung Palästinas, die Gründung Israels ein Fehler? Wirkte da vielleicht auch noch die Divide-et-impera-Politik der Kolonialmächte nach?
Das hat mich noch keiner gefragt. Man kann aber in der Tat fragen, warum die USA, Großbritannien und Frankreich ihre Grenzen für die bedrängten Juden aus Deutschland und den deutsch-okkupierten Ländern geschlossen haben, die Vereinigten Staaten schon 1924 keine Juden mehr einwandern lassen wollten, es aber nach dem Krieg erwarteten, ja verlangten, dass die Araber den Zustrom der Juden in ihr Land und einen »jüdischen Staat« akzeptieren. Ich würde jedoch die Staatsgründung nicht einen Fehler nennen. Der Staat Israel ist legal gegründet worden. Und er ist nicht nur legal und legitim, sondern ein Produkt der Geschichte.
Also doch! Sie widersprechen sich, widerlegen sich selbst.
Keinesfalls. Die Staatsgründung war Resultat der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Das ist Fakt. Aber sie wird auch mit ethnozentrischen Mythen begründet, dem »auserwählten Volk«, das nach zwei Jahrtausenden Diaspora in das Land der Väter, das Gelobte Land, »Erez Israel« zurückkehrte. Und das ist falsch.
Könnten Sie das erläutern?
Das »jüdische Volk« wurde nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nicht vertrieben. Es gehörte nicht zur Besatzungsstrategie der Römer, ganze Völker zu vertreiben. Das wäre ja auch unsinnig gewesen. Wer hätte die Ernte besorgt? Wer die Steuern gezahlt, die das luxuriöse Leben in Rom sicherten? Aufständische wurden hingerichtet oder als Sklaven verkauft. Der Mythos der Vertreibung des »jüdischen Volkes« ist kurioserweise von den Christen kreiert worden: die Vertreibung der Beschnittenen aus Jerusalem als göttliche Kollektivstrafe für den Verrat an Christus. Die Juden wurden nicht gewaltsam aus ihrer »Heimat« vertrieben. Sie kehrten auch nicht freiwillig zurück. Und wenn auch die Gründung Israels nicht ehrlich war, sie ist zum Fakt geworden, der anzuerkennen ist. Und das tun auch die Araber.
Außer Hamas.
Ich bin überzeugt, dass ein großer Teil der Hamas diesen Fakt zu akzeptieren bereit ist.
Sie sagten, die Gründung Israels war nicht ehrlich?
Ich meine die Doppelmoral in der Unabhängigkeitserklärung, dem Gründungsdokument vom Mai 1948: Einerseits wird gemäß UN-Wunsch ein demokratischer Charakter versichert, Gleichberechtigung aller Bürger ohne Ansehen von Religion und Rasse; andererseits soll sich die zionistische Vision der »nationalen Wiedergeburt des jüdischen Volkes« erfüllen.
Waren Sie für Israel im Krieg?
In zwei Kriegen. Ich habe Jerusalem miterobert. Damals war ich glücklich. Heute bin ich sehr unglücklich. Ich war gegen den Gaza-Krieg. Und ich bin der Ansicht, Jerusalem muss geteilt werden
Hauptstadt zweier Staaten. Geht das? Als Berlinerin bin ich skeptisch ob einer geteilten Stadt.
Ich glaube, dass es funktioniert. Sie sind jung, Sie wissen nicht, wie Hass aufweicht. Jahrzehnte haben Deutsche und Franzosen sich als Erzfeinde gehasst. Nun sind sie Verbündete und Freunde.
Sie sind ein Optimist.
Optimist im Herzen, Pessimist im Kopfe. Vor ein paar Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, dass Wladimir Putin, ein russischer Nationalist, das Verbrechen von Katyn eingesteht. Auch Israel muss das Verbrechen der Nakba einräumen, die Vertreibung und Flucht von etwa 730 000 Palästinensern. Das waren fast doppelt so viele, wie es damals, zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges, Juden im Land gab, nämlich 400 000. Und dieses Verbrechen wurde mit dem eingebildeten Anspruch eines nicht existenten jüdischen Volkes gerechtfertigt.
Die Mehrheit der Israelis will die Nakba nicht wahrhaben.
Schuld daran ist die zionistische Pädagogik und Geschichtsschreibung, die Generationen eine »organische Geschichte des jüdischen Volkes«, von der Bibel über die Diaspora lehrte und bis heute behauptet. Ganz kurios wird es, wenn auch Naturwissenschaftler die »ethnische Einzigartigkeit« des angeblichen jüdischen Volkes beweisen wollen. Die »Suche nach dem jüdischen Gen« war ein großes Spektakel, hat aber keine Beweise für die direkte Nachkommenschaft von den alten Hebräern gebracht. Ich meine, da sind die Palästinenser viel eher als die aus Europa eingewanderten Juden Abkömmlinge der Israeliten.
Wie soll es weitergehen?
Ein Kompromiss mit einem palästinensischen Staat würde nicht nur das lange Leiden in Nahost beenden, sondern auch Israel einen Neuanfang ermöglichen. Identität und Mentalität müssen sich grundlegend wandeln. Den palästinensischen Israelis muss neben völliger Gleichberechtigung auch kulturelle Autonomie zugestanden werden. Jedes palästinensisch-israelische Kind muss die gleichen Chancen haben wie jedes jüdisch-israelische. Alle Kinder Israels müssen die unter ihnen lebenden »Anderen« respektieren.
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