Rotarmisten, Kaugummis und das Sandmännchen

Vier Journalistinnen notierten verschiedene Kindheitserinnerungen aus Ost- und Westberlin

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.

Sie waren Kinder, und da spielte es manchmal keine so große Rolle, ob sie in Ost- oder Westberlin lebten. Auf beiden Seiten sahen sie das Sandmännchen des DDR-Fernsehens und lauschten im Radio der Kindersendung mit »Onkel Tobias«. Dabei wurde »Onkel Tobias« immerhin vom RIAS ausgestrahlt. Der Sender galt der SED als Rundfunk im amerikanischen Sold, der Menschen mit Unterhaltungsmusik ködert und sie dann mit Hetze gegen den Sozialismus überzieht.

Vier Journalistinnen haben in vier Büchern Kindheitserinnerungen aus den 40er bis 70er Jahren in Berlin aufgeschrieben: Gudrun Küsel wuchs in Spandau und Siemensstadt auf, Almut Zimdahl in Köpenick und Constanze Treuber in Friedrichshain. Astrid Hoffmann kam in Dahlem zur Welt. Die Bücher sind alle nach dem gleichen Muster gestrickt. Neben den notierten Erinnerungen gibt es viele Fotos und Abbildungen, dazu Faktenkästen etwa mit historischen Daten. Zwar geht es ohne Nostalgie nicht ab. Aber die Bücher sind mehr als ein sehnsuchtsvolles Schwelgen in der Vergangenheit. Sie liefern ein vielschichtiges Bild vom Alltag der Kinder.

Sie lasen Else Ury, ohne zu ahnen, dass die jüdische Autorin von den Faschisten in Auschwitz ermordet wurde. Den Krieg glaubten die Kinder zunächst weit weg. Die Väter fehlten, aber der Luftschutzkeller schien ein Abenteuerspielplatz zu sein, bis die Bomben krachten und Todesangst einjagten. Dann der Friede, die Not des schweren Anfangs und das Stromern in den Ruinen.

Doch neben den Gemeinsamkeiten stehen die Unterschiede. Im Osten verteilen Rotarmisten Suppe aus der Gulaschkanone, im Westen werfen die Piloten kurz vor der Landung in Tempelhof kleine Fallschirme mit Kaugummis und anderen Süßigkeiten aus den Rosinenbombern. Im Westen neue Schulbücher, im Osten neue Schulbücher und neue Lehrer. Die Neulehrer lernen oft erst in Abendkursen, was sie kurz darauf ihren Schützlingen beibringen. Sie sind jung, engagiert und vor allem keine Nazis. Als karg ausstaffiert erweisen sich die Schaufenster im Osten, während im Westen schon wieder Überfluss herrscht – allerdings nicht für die Halbstarken, die Jugendlichen aus den Arbeiterbezirken. Im Osten entstanden die ersten modernen Neubauwohnungen mit Bad und Balkon. Endlich raus aus der Enge der Altbauquartiere, endlich ein Kinderzimmer.

Der Mauerbau 1961 störte die Kinder wenig. Im Westen hatten sie sowieso keine Lust auf Brandenburg, wegen der bitteren Erinnerung an die erniedrigenden Hamsterfahrten zu den Bauern kurz nach dem Krieg. Im Osten freuten sich welche. Sie gingen am 1. Juni lieber zur Kindertagsfeier im Wohngebiet als zum Geburtstagskaffee bei der Tante in Lichterfelde. Nach der Ferienreise fühlen sich Westkinder daheim, wenn der Funkturm in Sicht geriet. Ostkinder, die das ND vom Kiosk holen sollten, versteckten es unter der Jacke, damit kein Bauarbeiter meckerte: »So was lesen die?« Im Osten rissen sich Jugendliche – Behauptungen heute zum Trotz – um Karten fürs Festival des politischen Liedes. Sie hörten dort allerdings gern Hermann van Veen, nahmen den Ernst-Busch-Chor bloß in Kauf. Es sind Erinnerungssplitter. Der eine machte solche Erfahrungen, und der nächste andere. Aus den Splittern wird ein Mosaik.

Almut Zimdahl: »Aufgewachsen in Ostberlin in den 40er und 50er Jahren«, Gudrun Küsel: »Aufgewachsen in Westberlin in den 40er und 50er Jahren«, Constanze Treuber: »Aufgewachsen in Ostberlin in den 60er und 70er Jahren«, Astrid Hoffmann: »Aufgewachsen in Westberlin in den 60er und 70er Jahren«, Wartberg Verlag, jeweils 63 Seiten (geb.), pro Buch 12,90 Euro, ND-Buchbestellservice, Tel.: (030) 29 78 17 77

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