Schutzschirm mit Löchern
Nicht alle Pflegekräfte erhalten Mindestlohn
Die gute Nachricht wurde schnell verbreitet (ND vom 21. Mai): Voraussichtlich zum 1. August wird es einen gesetzlichen Mindestlohn für Pflegekräfte geben. Er gilt für Pflegeheime und ambulante Pflegedienste und wird zunächst 8,50 Euro in den alten und 7,50 Euro in den neuen Bundesländern betragen. Seine Einführung wurde bisher durch Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) verzögert. Dieser wollte zunächst nur einer bis Ende 2011 befristeten Regelung zustimmen. Nun ist der Ressortleiter aber mit einer Verschiebung des Verfallsdatums auf 2014 einverstanden.
Die schlechte Nachricht ist nicht ganz neu, aber trotzdem kaum bekannt: Der Mindestlohn wird einen Anwendungsbereich haben, der ihn zu einem Schutzschirm mit Löchern macht. Nach dem Entwurf der »Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Pflegebranche« gilt er nämlich nur »für alle Arbeitnehmer, die überwiegend pflegerische Tätigkeiten in der Grundpflege gemäß Paragraf 14 Abs. 4 Nummer 1 bis 3 des Elften Buches Sozialgesetzbuch erbringen«. Er gilt also nicht für Arbeitnehmer, die hauswirtschaftliche Tätigkeiten ausführen, auch wenn sie daneben zugleich Leistungen der Grundpflege erbringen, ohne dass letztere überwiegen. Jede Arbeitskraft kann also legal mit bis zu 50 Prozent ihrer Arbeitszeit in der Grundpflege eingesetzt werden und für ihre gesamte Tätigkeit – also auch für die Pflege – weniger als den Mindestlohn erhalten. Die damit geschaffenen Möglichkeiten zur Umgehung der Lohnuntergrenze dürften in der Praxis sogar noch viel größer sein, denn der tatsächliche Anteil von Pflegetätigkeiten ist in der Regel kaum kontrollierbar und kann die zulässigen 50 Prozent daher auch erheblich überschreiten, ja sogar bis 100 Prozent betragen, wenn sich Arbeitgeber und Pflegekraft einig sind.
Damit kann der Mindestlohn seinen aktuellen Hauptzweck, nämlich vor Lohndumping durch billige osteuropäische Pflegekräfte zu schützen, nur sehr eingeschränkt erfüllen. Mit der ab Mai 2011 in der EU herrschenden vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit werden vor-aussichtlich viele Arbeitskräfte – vor allem Osteuropäerinnen – legal nach Deutschland kommen, um in Haushalten mit Pflegebedürftigen oder in Pflegeheimen zu arbeiten. Offiziell als »Haushaltshilfen« deklariert, können sie ihre Leistungen auch weit unter dem Mindestlohn anbieten, da dieser auf die geschilderte Weise umgangen werden kann.
Dass das keine Panne, sondern politisch gewollt ist, liegt auf der Hand: Legal konnten Haushalte mit Pflegebedürftigen bisher osteuropäische Arbeitskräfte nur beschäftigen, wenn diese von der Bundesagentur für Arbeit (BA) vermittelt wurden. Die BA durfte aber nur »Haushaltshilfen« vermitteln. Der Bundesrat hat noch in seiner letzten Sitzung im vergangenen Jahr einer Änderung der sogenannten Beschäftigungsverordnung zugestimmt, durch die den Haushaltshilfen erlaubt wurde, auch »notwendige pflegerische Alltagshilfen« zu erbringen. Dass damit praktisch die gesamte Grundpflege abgedeckt werden soll, wird in der Bundestagsdrucksache 810/09 wie folgt klargestellt: »Dazu gehören einfache Hilfestellungen bei der Körperpflege, der Ernährung, der Ausscheidung und der Mobilität. Um Rechtssicherheit sowohl für die betroffenen Familien als auch für die Hilfskräfte zu schaffen, sollte die realitätsferne Begrenzung der erlaubten Tätigkeiten beseitigt werden.«
»Wo kommen die Löcher im Käse her?«, fragt ein verzweifelter kleiner Junge in Kurt Tucholskys gleichnamiger Satire – und niemand aus der Großfamilie weiß es. Auch die Großfamilie derjenigen, die die Einführung eines Pflege-Mindestlohns begrüßen, weiß nichts über dessen Löcher. Noch schlimmer: Sie merkt nicht einmal, dass da Käse mit Löchern produziert wird.
Friedrich Putz war Professor an der Verwaltungsfachhochschule in Wiesbaden, Abteilung Kassel.
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