Ungerechtigkeit, wie man sie in Portugal bisher nicht kannte
ND-Interview mit Francisco Louçã über die Schuldenkrise, das Sparprogramm der Regierung und die Vorschläge der Linken
ND: Welcher Art ist die Krise, die Portugal gegenwärtig erlebt?
Francisco Louçã: Die Krise ist, wie in anderen Ländern Europas, Ergebnis einer tief greifenden Rezession, verbunden mit dem Kollaps des Staatshaushalts. Portugal besitzt eine fragile und abhängige Ökonomie, daher nimmt die Krise hier sehr gravierende Formen an. Jeder fünfte Einwohner lebt in Armut, 10 Prozent sind arbeitslos, 20 Prozent prekär beschäftigt. Es handelt sich also um eine sehr schwere, strukturelle Krise.
Faktisch besteht das Problem nicht in der Nettoneuverschuldung, die im vergangenen Jahr 9,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachte. Spanien (11,2 %) oder Großbritannien (11,5 %) weisen ganz andere Ziffern auf. Auch die Gesamtverschuldung ist mit 85,8 Prozent des BIP nur unwesentlich höher als diejenige Frankreichs und liegt weit unter der Belgiens oder Italiens (118,7 %). Das Hauptproblem unserer Volkswirtschaft ist die Stagnation, die Erwerbslosigkeit provoziert und eine lang andauernde Rezession samt sozialer Krise auslösen kann.
Welche Maßnahmen ergreift die Regierung angesichts dessen?
Im Augenblick liegen zwei Sparprogramme auf dem Tisch, die Privatisierungen und Steuererhöhungen um 1,5 Prozent mit Lohnsenkungen kombinieren. Das ist zwar weniger als in Griechenland versucht wird, allerdings trifft es eine Bevölkerung, deren Durchschnittslohn 750 Euro beträgt. Wobei viele mit einem Mindestlohn von 475 Euro im Monat leben müssen. Andererseits erreichte die Arbeitslosenquote vor der Krise schon den Rekordwert von 10 Prozent und steigt jetzt weiter. Am gravierendsten sind wahrscheinlich die Reduzierung der Sozialausgaben sowie die Nettosenkung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Für diese Art von Eingreifen hat die PS-Regierung ein Abkommen mit der PSD geschlossen, der wichtigsten Kraft der rechten Opposition.
Gibt es Gegenwehr? Und wie verhält sich die Gewerkschaft?
Die wichtigste Gewerkschaftszentrale CGTP-Intersindical hatte für den 29. Mai zu einer landesweiten Demonstration aufgerufen. Natürlich kommt es auch zu Streiks, doch die waren bislang sehr begrenzt und betriebsbezogen. Niedrige Löhne und die Angst vor der Krise führen zu einer defensiven Reaktion, was Arbeitsniederlegungen anbelangt. Aber natürlich steht die Vorbereitung einer globalen Antwort auf der Tagesordnung.
Welchen Ansatz verfolgt die Linke und welche Rolle spielt der Bloco de Esquerda dabei?
Die beiden wichtigsten Formationen der Linken – der Bloco und die PCP – stimmen darin überein, dass eine soziale Reaktion notwendig ist. Darüber hinaus gibt es einige Mitglieder und Funktionäre der Sozialistischen Partei, die gegen die Privatisierungen, die Angriffe auf den Öffentlichen Dienst und die Steuererhöhungen Stellung bezogen haben.
Unsere Anstrengungen als Bloco konzentrieren sich sowohl auf die Organisierung einer sozialen Reaktion als auch auf die Ausarbeitung einer politischen und ökonomischen Alternative. Wir wollen eine andere andere Steuerpolitik und die Umgestaltung der öffentlichen Investitionen vorschlagen. Vor allem wollen wir ein politisches Massenbewusstsein über die Bedeutung der Sparpolitik, über Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit, das Malträtieren der Arbeitenden und die Wohltaten fürs Kapital schaffen. Deshalb ist ein Großteil unserer Arbeit auf das Anprangern konkreter Fälle von fabelhaften Subventionen, Vergünstigungen, Gehältern und Boni gerichtet, in deren Genuss Banken und Chefmanager kommen. Die erreichen Dimensionen, wie man sie in Portugal bislang nicht kannte. Damit wollen wir zeigen, dass eine gerechte Steuerpolitik eine unmittelbare Antwort auf die Haushaltsprobleme ist.
Welche konkreten Vorschläge legen Sie denn vor?
Wir haben ein alternatives Stabilitätsprogramm mit Kürzungen der Militärausgaben und weiteren Maßnahmen vorgelegt, die beweisen, dass sich die Haushaltskorrektur mit einer Politik bewerkstelligen lässt, die Arbeitsplätze schafft und nicht vernichtet. Notwendig sind Maßnahmen zur Stärkung der Nachfrage, vor allem aber eine Umverteilung des Einkommens sowie eine Änderung der Steuerpolitik, der Produktion und der Investitionspolitik. Deren gemeinsames Ziel muss es sein, die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Dreh- und Angelpunkt zu machen. Das bedeutet, die öffentlichen Dienste gegen Privatisierungen zu verteidigen und das Finanzsystem für die Krise zur Rechenschaft zu ziehen, die es hervorgerufen hat.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.