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- ZEITungs-Schau 1990
Eruptionen und Exzerpte
Vor 20 Jahren stand die MEGA fast vor dem Aus. Nun sind Marx und Engels im akademischen Kanon fest verankert.
Was hat Karl Marx mit dem Eyjafjalljökull zu tun? »Gar nichts«, sagt Anneliese Griese und lacht. Der Prophet aus Trier hat den Ausbruch dieses isländischen Vulkans im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht vorausgesagt. Trotz akribischer Studien der Vulkanologie. Ja, Marx hat sich nicht nur mit gesellschaftlichen Eruptionen befasst, sondern auch naturgewaltigen. »Er hat sich früh für die Geologie interessiert, die damals noch Geognosie hieß«, erläutert die Berliner Professorin, die am Band mit den Exzerpten von 1878 mitarbeitete, der im Herbst erscheinen wird – als 58. Band der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA).
Hiobsbotschaften für die Community
Halbzeit bei diesem ambitionierten Unternehmen ist jetzt erreicht, »wenn man unserer Arithmetik folgt«, wie Manfred Neuhaus, Chef der MEGA-Forschungsgruppe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), sagt. »Der Schlussstein der I. Abteilung, Band I/32, ist bald erhältlich.« Er enthält das Politische Testament von Friedrich Engels, dessen viel diskutierte und umstrittene Einleitung zu Marxens »Klassenkämpfe in Frankreich« und »viele andere interessante und wichtige Arbeiten«. Damit lägen 57 Bände von insgesamt 114 geplanten vor; 17 sind im letzten Dezennium erschienen. Wer hätte das vor 20 Jahren gedacht?
Da sah es gar nicht gut aus für die MEGA. Im »Neuen Deutschland« vom 30. Mai 1990 war zu lesen: »Einem Lauffeuer gleich hatten sich in der Gemeinde der Marx-Engels-Spezialisten von Trier bis Tokio Hiobsbotschaften herumgesprochen, in denen von Budgetkürzungen und Personalabbau bei einem der größten Editionsunternehmen die Rede war.« Es gab besorgte Briefe der Scientific Community. Noch im Herbst des Jahres konstituierte sich eine Internationale Marx-Engels-Stiftung (IMES) mit Sitz in Amsterdam, ein internationales Netzwerk, zu dem das Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte, das Karl-Marx-Haus in Trier, die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn und das heutige Russländische Staatliche Archiv für Sozial- und Politikgeschichte in Moskau gehören. Doch war die Gefahr damit längst nicht gebannt. Ein Arbeitsminister hat zu jener Zeit verkündet: »Marx ist tot, es lebe Jesus!« In meinungsmachenden Blättern wurde gegen die »Mega-lomanie«, den »Größenwahn« MEGA zu Felde gezogen. »Was für Hitler der Arier, war für Marx der Prolet-arier«, las man in der »Welt«. Dümmer ging's nimmer, dachte man und täuschte sich. Aus dem Land, aus dem das »Gift« gekommen sei, müsse auch das »Gegengift« kommen. – Was den »Marxismus mit Stumpf und Stiel auszurotten« meint, ist bekannt.
Es war dem damals gegründeten Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition mit zu verdanken, dass in diesen Marx höchst unfreundlichen Zeiten das hehre wissenschaftliche Ziel nicht aus den Augen und dem Sinn geriet. Er bemühte sich, so der Vereinsvorsitzende Rolf Hecker, um »Bewahrung und Erschließung des literarischen Nachlasses von Karl Marx und Friedrich Engels als Teil des europäischen, humanistischen Kulturerbes«. Und zwar mit Tagungen und Publikationen, darunter das Periodikum »Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge«. Kritisch setzte man sich mit der Geschichte von Marx-Engels-Editionen auseinander. Gewürdigt wurde die in den 20er Jahren in Moskau unter David Rjazanov begonnene erste MEGA, die Stalin 1941 abwürgte – nachdem deutsche und russische Mitarbeiter dem »Großen Terror« zum Opfer gefallen waren, darunter der Spiritus Rector. Ihn ehrt der Verein mit dem David-Rjazanov-Preis für junge Wissenschaftler.
Letztlich gerettet hat die MEGA die institutionelle Anbindung an die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Für die Fortführung des einstigen Prestigeobjektes zweier kommunistischer Partei- und Regierungskommissionen war eine internationale Evaluation 1992 in der altehrwürdigen französischen Universitätsstadt Aix-en-Provence entscheidend. Der Umfang (ursprünglich 164 Bände) wurde abgespeckt. Und neue editionsphilosophische Prinzipien wurden formuliert, gemäß internationalem Standard und im Sinne von Marx: frei von Ideologie, stattdessen Ideologiekritik.
»Marx und Engels sind in dem akademischen Kanon aufgenommen, fest ins Klassikerprogramm integriert, gleichberechtigt neben Aristoteles, Leibniz, Goethe und Kant«, sagt Gerald Hubmann, Neuhaus' Stellvertreter, der seit Jahren das »Marx-Engels-Jahrbuch« betreut. Die beiden, der eine ostdeutscher, der andere westdeutscher Provenienz, können gut miteinander. Das spürt man sofort. Abwechselnd berichten sie mit leuchtenden Augen über Arbeitserfolge. Sie verschweigen aber auch nicht Ärgernisse, die es immer mal wieder gibt. Da hat einer seine Arbeit hingeschmissen, weil er wissenschaftliche Kritik persönlich nahm. Eine andere Mitarbeiterin wollte ihre Vorarbeiten zu einem Band nicht mehr zur Verfügung stellen, gleichsam als Privateigentum verstanden wissen. Wieder andere Forscher haben sich in ihre Arbeit verbissen, können nicht loslassen und riskieren Publikationsverzug. Ein ganz normaler Wissenschaftsbetrieb also.
Nicht ganz. Denn das öffentliche Interesse an der MEGA ist weltweit größer als an jeder anderen Werkausgabe großer deutscher Denker. Zwar wird auch Leibniz rund um den Globus eifrig rezipiert, Marx indes dürfte in den Metropolen und Ghettos dieser Welt bekannter als jener letzte deutsche Universalgelehrte sein. Und obgleich die Auflagenhöhe der MEGA bescheidener als zu Sowjet- und DDR-Zeiten ist, so liegt sie doch im »vierstelligen Bereich, was für eine historisch-kritische Edition sehr viel ist und womit sie wohl auch die stärkste sein dürfte«, wie Hubmann vermutet. Neuhaus ergänzt stolz: »Und sie wird gekauft.« Das hat vor einiger Zeit auch Akademiepräsident Günter Stock in einem ND-Interview bekundet: Mit der MEGA kann man richtig Geld verdienen. Es ist ein Produkt, das in den großen Bibliotheken zu finden ist. Und auf dessen Grundlage Anthologien erarbeitet werden, die in renommierten Publikumsverlagen erscheinen. Niemand kann mehr gegen die MEGA stänkern.
Das Tüpfelchen auf dem »I«
Vor wenigen Wochen hat die Edition während der turnusmäßigen Evaluierung erneut exzellente Bewertungen durch die Gutachter erfahren. Damit ist der Förderzeitraum bis Ende 2015 abgesegnet. Und gesichert sind die acht, paritätisch aus Ost und West stammenden fest angestellten sowie die vielen in- und ausländischen freien Mitarbeiter. »Nächstes Jahr werden wir die ›Kapital‹-Abteilung abschließen«, frohlockt Neuhaus. »Es fehlt noch ein nicht unwichtiger Teilband, das Tüpfelchen auf dem ›I‹. Wenn uns den Carl-Erich Vollgraf geliefert hat, werden wir mit großem Trommelwirbel das ökonomische Werk feiern, das damit in Gänze ediert ist. Es ist ja auch das Sensationellste.« Nach 125 Jahren wären erstmals Marxens umfangreiche Manuskripte zu Buch 2 und 3 des »Kapitals« vollständig veröffentlicht. »Darauf haben die Forscher lange gewartet.«
Vielleicht ebenso die Börsianer? Zu erfahren ist jedenfalls dann auch, aus welcher Quelle Engels schöpfte, als er zwei Bände von Marxens unvollendet gebliebenes »Kapital« zusammenstellte, was er übernommen und was er weggelassen hat. Wäre damit endlich geklärt, ob oder inwiefern der Fabrikantensohn seinen Freund verfälscht hat? »Er hat ihn sicher nicht verfälscht«, erwidert Hubmann. »Ob er ihn immer richtig verstanden hat, wird man nie entscheiden können. Weil dies voraussetzt, dass man weiß, wie Marx verstanden werden wollte. Und da man das nicht weiß, halte ich diese ganzen Debatten für Spiegelfechterei.« In der seriösen Literatur wird nicht mehr nach den Marx-Engels-Werken (MEW), sondern nach den in der MEGA publizierten Originalmanuskripten zitiert. »Diese räumen mit der kindischen Vorstellung auf, Marx habe alle Fragen gelöst. Nein, hat er nicht. Er stellte aber die richtigen Fragen«, betont Hubmann. Explosive Fragen.
Das ökonomische Werk von Marx mit dem Herzstück »Kapital« – das mit den berühmten Worten beginnt: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹« – firmiert als Abteilung II der MEGA. Abteilung I versammelt die Werke von Marx und Engels. Die III. Abteilung bündelt deren Briefe und die der Korrespondenzpartner, »die früher ganz unterdrückt und später teils separiert erschienen sind«, wie Neuhaus bemerkt. Die IV. Abteilung ist den Exzerpten vorbehalten, durchweg Erstveröffentlichungen. Und da wird einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert, wofür sich Marx so alles interessierte, wessen Werke er rezipierte. Die IV. Abteilung wird die umfangreichste.
Des Laien leise geäußerter Zweifel, ob wirklich jeder »Schnipsel« aus des großen Philosophen Nachlass publiziert werden müsste, entsetzt die MEGA-ner. »Das ist ja das eigentlich Spannende!«, ruft Hubmann aus. »Die ›Schnipsel‹, wie Sie sagen, leisten einen unermesslichen Beitrag zur internationalen Wissenschaftsgeschichte.« Neuhaus und Hubmann zählen diverse Fachgebiete auf, die Marxens Wissbegier entfacht hatten. Der Zuhörer ist beeindruckt und kommt zur Ansicht, Leibniz müsste der Titel »letzter deutscher Universalgelehrter« aberkannt werden. Soweit wollen Neuhaus und Hubmann nun doch nicht mitgehen.
Um das vielseitige Interesse des über Jahrzehnte vornehmlich als Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus etikettierten Geistesriesen zu unterstreichen, verweist Neuhaus darauf, dass sich Marx 1853 mit der Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche befasste. »Er studierte Augustin Theiner, einen Schustersohn aus Breslau, der vom Katholizismus zum Protestantismus und wieder zurück zum Katholizismus konvertierte. Er hat in Halle an der Saale Theologie studiert und sich dort auch promoviert, stieg 1856 zum Präfekten des Vatikanischen Archivs auf, fiel jedoch dann beim Papst in Ungnade und wurde suspendiert, da er deutschen Kirchenfürsten geheime Dokumente zur Verfügung gestellt hatte. Aus dessen Quelleneditionen erfuhr Marx viel über das Verhältnis zwischen Zar und Kirche, Sekten und Dissidenten.«
Warum wollte er das wissen? 1853 begann der Krimkrieg, von Zar Nikolaus I. angeblich zum Schutz der orthodoxen Christen im zerfallenden Osmanischen Reich gegen die Türken geführt, in Wahrheit zur territorialen Eroberung und Kontrolle über Handelswege auf Kosten des »kranken Mannes am Bosporus«. Worauf Frankreich und Großbritannien gleichfalls aus Eigennutz in den Krieg eintraten. Es ist das alte Lied. Das Militär wird losgeschickt zur Befriedigung ökonomischer Begierden. Imperiale Logik. Logik des Kapitals. Horst Köhler hat uns nicht Neues verraten.
Zu welchem Zweck nun aber hat Marx die vieltausendseitigen Exzerpte zu den unterschiedlichsten Wissenssparten angefertigt? »Die tradierte Auffassung war: Alles was er tat, tat er fürs ›Kapital‹. Und mit diesem wurde er nicht fertig, weil er sich zu sehr in Einzelstudien vertiefte«, rekapituliert Hubmann. »Aber wenn man mal in die Exzerpte reinschaut, bemerkt man, die haben nichts mit dem ›Kapital« zu tun.« Beispielsweise sein Interesse für das seinerzeit zeitgleich von Mendelejew und Meyer aufgestellte Periodensystem der Elemente. Auch die Studien zu Agrochemie und Geologie erschöpfen sich nicht in der Bodenwerttheorie, meint Hubmann. Neuhaus bestätigt: »Marx wollte sich die Grundlagen diverser Wissenschaftsdisziplinen originär erarbeiten.«
Zu jenen gehörte die Geologie. »Sie avancierte im 19. Jahrhundert zu einer der führenden Wissenschaften im Bereich der Naturerkenntnis, vor allem in Großbritannien. Es gab damals in London viele öffentliche Vorlesungen bedeutender Gelehrter, die auch Marxens Töchter besuchen«, weiß Anneliese Griese. Hatte sich Marx Mitte der 40er Jahre unter dem Einfluss der Hegelschen Naturphilosphie mit Geologie und Evolution zur Widerlegung der Schöpfungstheorie befasst, so diente sein Studium des Lehrbuchs von Joseph Beete Jukes 1878 dem Rätsel, welche Agenzien den Charakter der Erdkruste bestimmen. Es tobte damals ein heftiger Disput zwischen den Protagonisten des Neptunismus, die für die Kraft des Wassers als die entscheidende votierten, und jenen des Plutonismus, die auf die Macht des Feuers schworen. Ein schon in der Antike geführter Streit. Marx entschied sich für die Kraft der Gegensätze in der Synthese.
Neptunismus kontra Plutonismus
Für Anneliese Griese ist es unstrittig, dass Marxens Beschäftigung mit geologischen, mineralogischen sowie agrochemischen Fragen als Voraussetzung für Kulturboden und Bodenqualität, also für die landwirtschaftliche Produktion, der Arbeit am »Kapital« diente. Sie ist ebenso überzeugt, dass er seine Studien der Naturwissenschaften auch mit Blick darauf betrieb, ob deren methodisches Vorgehen für die gesellschaftstheoretische Forschung zu nutzen wäre. In Anlehnung an den Begriff der geologischen Formation habe er den der ökonomischen respektive der Gesellschaftsformation entwickelt.
Den Ehrgeiz, Erderuptionen zu prophezeien, hatte Marx also nicht. Aber wer vermag dann die Frage zu beantworten, warum nach dem Eyjafjalljökull nun auch Vulkane in Guatemala und Ecuador, im Südpazifik und auf Kamtschatka Feuer und Asche speien? Die Erde spinnt.
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