Hartz IV im Wald
Drei Männer folgen dem »Lockruf der Wildnis« im Theater unterm Dach
Es war einmal eine kleine, gut funktionierende Stadt irgendwo in Deutschland mit werktätigen Einwohnern, Industrie, einem Bahnhof und einem Campingplatz. Letzterer ist noch da, nahe einer Tankstelle. Dort können nicht allzu viele Leute arbeiten. Also haben die meisten Einwohner ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Der Ort stirbt. Drei Großstadtmänner um die 40 meinen, hier draußen böten sich völlig neue Optionen für alles mögliche und folgen dem »Lockruf der Wildnis«. Zunächst zog Frank los. Das sei typisch, sagen seine zwei Freunde. Wo alle abhauen, da ziehe Frank hin und macht irgendwelche Projekte – »selbstversorgermäßig«.
Herbert und Bertram besuchen ihn. Der eine mit in seiner Situation wahnwitzigen Geschäftsideen für den leeren Raum, der sich ihm präsentiert. Der andere kommt mit Kühltasche und Würstchen. Mann ist schließlich auf dem Campingplatz. Tragisch komisch geben sich dabei die Schauspieler David Jeker, Mikel Ulfik und Marco Wittorf in dem neuen Stück von united-OFF-productions im Theater unterm Dach. Es ist der letzte Teil ihrer Trilogie »Megastadt-Großstadt-Tote Stadt«. Eine Theaterstückfolge, die »den Fokus auf die Lebensentwürfe von Menschen richtet, die sich mutig und stolz in den sich durch Arbeitslosigkeit, demografischen Niedergang und Globalisierung wandelnden Stadtlandschaften behaupten«. Gefördert wurde die Koproduktion von Commedia Futura/Eisfabrik Hannover, Forum Freies Theater Düsseldorf, Schaubühne Lindenfels Leipzig und Theater unterm Dach Berlin, von der Stiftung Niedersachsen und dem Fonds Darstellende Künste.
Autor und Regisseur Dieter Krockauer lässt seine Hartz IV-Akteure mit Gedanken spielen. Sie sind müde, sich von einer vom Jobcenter verordneten »Maßnahme« zur nächsten zu hangeln, um bis zur Übelkeit Bewerbungstraining zu üben oder Computerkurse zu absolvieren. Niemand will sie mehr. Sie sind »aus der Produktivität gefallen«. Könnte man vielleicht auf eine andere Art produktiv sein? Was die drei hier erleben, ist den Bewohnern der früher funktionierenden Stadt schließlich auch widerfahren. Nur dass man in der Großstadt mit intakter Infrastruktur anders damit leben kann als an verlassenem Ort, den die drei auf unterschiedliche Weise wahrnehmen.
Geradezu revolutionäre Visionen bauen sich auf. Von derart »Nutzlosen«, die ihr Elend herausschreien. Die sich nicht mehr hinter dem Fernsehgerät verstecken, sondern sich vereinen, bis hin zu einer Art kommunistischer Gesellschaft der Nutzlosen, wo jeder gibt, was er kann und nicht mehr nimmt als er braucht. So könnte man auf eine andere Art produktiv sein. Vielleicht in den abgeblühten Landschaften, wo sonst nichts passiert. Man muss sich selbst etwas einfallen lassen, um von der Sozialhilfe zu sozialer Hilfe zu kommen. Eine andere Frage ist, ob man Orte, die der Mensch mit der Industrialisierung besetzte und nun nicht mehr braucht, doch besser der Natur zurück geben sollte. Dort können dann die Wölfe wieder heulen. Besser gesunder Wald als kranker Leerstand, könnte das heißen. Weltweit lebe schließlich jeder zweite Mensch inzwischen in der Großstadt.
Während sich die Männer also mit dem »Nicht-mehr-gebraucht-werden« befassen und über Lebensmodelle für die Zukunft sinnieren, kommt eine andere Frage auf. Spricht man heute von einer Generation der jungen Alten um die 60, was wird das in 20 Jahren unter solchen Bedingungen für eine Generation mit heute schon schlaffen 40ern? Sind sie bis dahin völlig kaputt, weil man ihnen dauernd erklärt, dass sie überflüssig seien? Ist das die tatsächliche Vergreisung der Gesellschaft? Eine, die mit Lebensalter nicht unbedingt etwas zu tun hat?
Tragisch-Komisches bringt in dem Stück »Lockruf der Wildnis« viel Ernsthaftes mit sich. Dazu machen die drei Schauspieler Musik. Es ist ihre Musik, Rock der 40-Jährigen. Das bringt auch manchen Aufschrei in die 90 Minuten.
5., 6., 10. und 11.6., 20 Uhr, Theater unterm Dach, Danziger Str. 101, Prenzlauer Berg, Karten 8/5 Euro, Tel.: 902 95 38 17
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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