Wissen und Proletariat
Neuer Autorenband über die Thesen von André Gorz
Der 1924 geborene und 2007 durch Suizid aus dem Leben geschiedene französische Sozialphilosoph André Gorz kann heute in gewissem Sinne als Prophet gelten. Während andere in Westeuropa nach den Kämpfen der späten 1960er Jahre noch folkloristisch die Wiederentdeckung der Arbeiterklasse feierten, fragte er schon, so der Titel seines bekanntesten Werkes, ob nicht der »Abschied vom Proletariat« angezeigt sei.
Gorz stieß mit seinen Thesen auf Widerspruch, es war die Zeit der Gründung der Grünen und die der beginnenden Dienstleistungsgesellschaft. Während viele den Glauben an die Arbeiterklasse wieder verloren, setzte Gorz wie jene seine Hoffnungen in die neuen sozialen Bewegungen und wurde unter anderem zu einem der Ideengeber für das Konzept des Grundeinkommens. Gorz reflektierte den Niedergang des männlichen, vollzeitbeschäftigten Lohnarbeiters. Sein Gegenmittel, das er auch der politischen Linken unermüdlich empfohlen hat: die Fixierung auf die traditionelle Lohnarbeit aufgeben, die thematischen und sozialen Grenzen der traditionellen Arbeiterbewegung überwinden und die Anregungen der Frauen- und der Ökologiebewegung aufnehmen. Eine zeitgemäße emanzipatorische, auf individuelle und soziale Freiheiten zielende politische Strategie muss, so Gorz, die industrialistische Tradition der Linken zugunsten einer politischen Moral von Autonomie und Gemeinsinn überwinden. Neuere Arbeiten von Gorz widmeten sich Überlegungen zu Wissen, Wissensgesellschaft und Arbeit, immer im Zusammenhang einer Herrschaftskritik.
Die sechs längeren Beiträge des vorliegenden, aus einer Tagung der Heinrich-Böll Stiftung Hessen resultierenden Bandes beinhalten eine streckenweise sehr kritische Auseinandersetzung mit Arbeit, Wissen und Ökologie, den drei zentralen Gegenständen des Denkens von André Gorz. Hermann Kocyba etwa wendet sich gegen das Verständnis von »Wissen«, das Gorz formuliert, und setzt dagegen, dass Wissen im zeitgenössischen Kapitalismus eben kein Gemeingut sei, es zwar durch seine Nutzung nicht verbraucht, aber sehr wohl durch rechtliche Regelungen knapp gehalten und in Wert gesetzt werde.
Micha Brumlik bemerkt süffisant, dass die neo- und antimarxistischen AnhängerInnen der Wissensgesellschaft von den neuen Technologien diejenige Entfesselung der Produktivkräfte erwarten würden, die der traditionelle Marxismus der grundsätzlichen technischen Entwicklung zugeschrieben habe – insofern seien diese beiden Denkschulen sich sehr ähnlich. Egon Becker wirft einen Blick zurück in die Entwicklung des Denkens einer politischen Ökologie von Gorz: Etwa auf die vor Jahren heftig geführte und auch heute aktuelle Debatte, ob Kapitalismus – und auch Sozialismus – ohne ökonomisches Wachstum möglich ist. Für die Lektüre des Buches sind grobe Kenntnisse der Arbeiten von Gorz von Vorteil, jedoch nicht unbedingt Bedingung. Es enthält im Text von Becker Informationen zur Biografie von Gorz und eine Bibliografie seiner deutschsprachigen Publikationen.
Buchcover: Klartext Verlag
Ralf Zwengel (Hrsg.): Ohne Proletariat ins Paradies? Zur Aktualität des Denkens von André Gorz. Klartext Verlag, Essen 2009, 110 S., 9,90 Euro.
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