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Leseprobe
Selbstbetrug in Afghanistan
Die Zeit der Kriegserklärungen ist vorbei. Kein berittener Bote überbringt mehr einen versiegelten Umschlag, in dem eine diplomatische Note mit Termin und Modalität eines Waffengangs steckt. Keine Depesche löst mehr eine Krise zwischen zwei Staaten aus. Kriege des 21. Jahrhunderts werden nicht angekündigt. Sie kommen schleichend daher, werden Instabilität genannt oder Konflikt ...
Kriege im 21. Jahrhundert ignorieren Grenzen. Grenzen sind irrelevant, weil Kriege in der Regel nicht zwischen Staaten geführt werden. Und weil Grenzen unbedeutend sind, ist niemand mehr vor Kriegen geschützt. New York, Madrid, Wana oder Kandahar – Krieg kann überall sein. Auch weil Kriege keine Grenzen kennen, werden sie nicht mehr erklärt. Denn: Wer sollte wem seine Feindschaft mitteilen? Dennoch besteht ein hohes Bedürfnis nach einer Kriegserklärung. Den »Krieg erklären«, erläutern, ihn in Worte fassen – mehr denn je müssen diese simmernden, aufkochenden, immer gefährlicheren Konflikte einer großen Menge Menschen nahegebracht werden. Die Kriegserklärung des 21. Jahrhunderts ist eine öffentliche Aufgabe ...
Moderne Kriege können nicht durchgestanden werden, wenn die Mehrheit in einer Demokratie die Gefolgschaft verweigert. Demokratien sind nicht wirklich geschaffen zur Kriegsführung. Keine Gesellschaft bringt gerne Opfer, demokratische Gesellschaften ganz besonders nicht. Tote Soldaten und Zivilisten setzen Demokratien unter Druck, können Wählermassen bewegen und Regierungen stürzen. Kriegseuphorie ist ein Phänomen der Vergangenheit.
Deutschland kennt seine Vergangenheit. Es hat Lehren daraus gezogen ... Und doch hat der Krieg des 21. Jahrhunderts Deutschland eingeholt ... Deutschland führt Krieg, aber vom Krieg darf man nicht sprechen. Die Rede ist von einem Stabilisierungseinsatz, von einer Mission zur Unterstützung des Staatsaufbaus. Krieg darf das nicht sein, weil Krieg einen völkerrechtlich souveränen Gegner voraussetzt, und weil die Versicherungen die Policen nicht auszahlen, wenn ein Toter aus einem Kriegsgebiet zu beklagen ist.
Der Streit um die richtige Terminologie ist nur eine von vielen Unehrlichkeiten, die den Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch begleiten. Aber er ist symptomatisch für einen großen politischen Selbstbetrug, dem das Land erliegt. Vieles an diesem Afghanistan-Einsatz ist unausgesprochen, halbgar, unwahr und heuchlerisch ... Ehrlich wäre es zuzugeben, dass der defensive Auftrag für die Soldaten zu absurden militärischen Situationen führt ... Ehrlich wäre es auch zuzugeben, dass die mit großem politischen Theater nach Afghanistan verlegten Tornados operativ nutzlos sind ... Ehrlich wäre es außerdem zuzugeben, dass Deutschland bei der Polizeiausbildung gescheitert ist ... Und ehrlich wäre es schließlich auch zuzugeben, dass der zivile Aufbau einer beängstigenden Routine verfallen ist und dem eigentlichen Bedarf nicht gerecht wird ... Die Soldaten sind die Betrogenen. Sie sind die eigentlichen Opfer eines großen Selbstbetrugs.
Aus Stefan Kornelius »Der unerklärte Krieg. Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan« (Edition Körber-Stiftung, 100 S., br., 10 €).
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