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»Russland! Wer ist hier der Letzte?«
Eduard Kotschergin bei Dieben, Krüppeln, Huren
Man wusste es ja: Dass jemand zu Stalins Zeiten für nichts und wieder nichts ins Lager kommen konnte; für Kinder gab's das NKWD-Kinderheim. Dass es dort nicht freundlich zuging – gewiss, das ganze Land war auf Disziplin getrimmt. Und wenn es an allem fehlt, wird geklaut, trotz hoher Strafen. Miliz und Militär sind unnachsichtig, was Diebe nicht schreckt. Jeder muss sehen, wo er bleibt, um nicht unter die Räder der Zeit zu kommen.
Man wusste um Russlands Kehrseite, wollte sie aber nicht gar zu gern sehen. Sowjetische Autoren kannten sich da besser aus als ihre deutschen Leser und bewahrten sie gnädig vor allzu großem Schmerz. Es gab ja auch Ermutigendes: Menschen mit Idealen und Gerechtigkeitssinn. Wir wollten glauben. Zu glauben ist des Menschen Recht. Und auch Eduard Kotschergin kann sich begeistern, wie man an seinen Texten sieht. Aber was ihm widerfahren ist, erzieht doch zu einiger Nüchternheit.
»O Matka Bronia, nimm ich als Spion«, heißt die erste Erzählung. Ein Kind wünscht sich, als Spion abgeführt zu werden, um dort zu sein, wo die Mutter ist. Aber es kommt ins Heim zu anderen Zöglingen, die einander fragen: »Wer ist besser, ein Spion oder ein Volksfeind?« »Der Genosse Stalin ist der Freund aller Kinder. Also ist er auch unser Freund?«, wollte der älteste Junge von der Erzieherin wissen. Die erschrak furchtbar. Aus dem Zimmer der Wache hörte man den Jungen heftig weinen ...
Man merkt von den ersten Seiten an: Dieser Erlebnisbericht ist lange gereift. Bis der richtige Erzählton gefunden war – nicht wehleidig, Mitleid heischend, sondern mit sarkastischem Humor. Eduard Kotschergin, 1937 geboren, ist heute Bühnenbildner und Szenograf in Sankt Petersburg, wurde mehrfach für diese Arbeit ausgezeichnet, aber sein schriftstellerisches Talent wird davon nicht in den Schatten gestellt. Ganna-Maria Braungardt und Thomas Reschke brachten es in ihrer Übersetzung auch in deutscher Sprache zum Leuchten.
Welche Prägungen erfährt ein Kind, das vor seinen Bewachern flieht, immer in Angst, weil die Erwachsenen keine Gnade kennen? Eduards Heimstatt werden Züge, Bahnhöfe, Wälder. Bestrebt, so weit wie möglich nach Westen zu gelangen, wird er immer findiger und abgehärteter im Sich-Verstecken. Um Essbares zu ergattern, zeigt er heimkehrenden Frontsoldaten sein Kunststück: Aus Kupferdraht biegt er die Porträts von Stalin und Lenin. Aber er muss sich vor der Miliz in Acht nehmen. Nicht nur einmal wird er gefasst und entwischt. Das liest sich ungemein spannend und ungemein traurig. Ein Kinderschicksal inmitten allgemeiner Not. Krüppel, Diebe, Schmuggler – sie leben in ihrer eigenen Welt. Der Text ist eine Feier der russischen Gaunersprache.
Auch als Eduard nach langer Zeit in Leningrad, das hier immer nur Piter oder Petrograd heißt, wieder mit der Mutter vereint ist, bleibt er im Milieu der Ausgestoßenen. Er verdingt sich als Gehilfe des »Großen Zupfers«, eines begnadeten Taschendiebs. Lange, lange gehört er zu denen, die sich abseits des sozialistischen Weges durchschlagen und der Staatsmacht ein Dorn im Auge sind. Er erzählt von einem schwer verwundeten Hauptmann, seinen Kunststücken mit einem chinesischen Huhn und dem langen Trauerzug der Invaliden, als er starb, erzählt von Onkel Wanja, dem »Lichtbildner«, dem man auf der Polizeiwache seine Orden herunterriss, von Pascha Nitschejnaja, der kindlichen Hure, die von einem flüchtigen Freier eine Puppe geschenkt bekam, aber er steckte sie mit einer Geschlechtskrankheit an. Aus Zorn wollten die anderen Huren die »Engelspuppe« verbrennen, aber Pascha rettete sie aus dem Feuer. Die Petrograder Prostituiertengemeinschaft und die Krüppel: Leben im Untergrund. Die Kriegsversehrten wurden bald schon aus der Stadt gebracht – in Versehrtenheime, die in leer stehenden Klöstern eingerichtet wurden. Statt an Trinkbuden herumzulungern, sollten sie für »ordentliche Verwahrung« dankbar sein.
Auch wurde das Stadtbild gepflegt, indem man »Schmarotzer« verbannte. So kam in Totma im Gebiet Wologda eine ganze Kolonie von Alkoholikern zusammen. Eduard Kotschergin, inzwischen schon als Bühnenbildner unterwegs, konnte beobachten wie sie dort lebten: »am Tag irgendwo was erbeuten, am Abend versaufen, am Morgen kurieren«. »Russland! Wer ist hier der Letzte?«, fragte ein grauhaariger Mann mit großer Hornbrille und dem Gesicht eines alkoholkranken Akademiemitglieds. Aber so spät, wie er kam, und so lang die Schlange vor dem Bierkiosk war, würde es für ihn wohl kaum für den ersehnten morgendlichen Schluck reichen.
Eduard Kotschergin: Die Engels-puppe. Erzählungen. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt und Thomas Reschke. Persona Verlag. 255 S., geb., 22 €.
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