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Eindrucksvolles Panorama
Roter Stern über Russland – Plakate und Fotos von David King
Er leitete von 1965 bis 1975 das Kunstressort des Londoner »Sunday Times Magazine«. 1977 erschien im Verlag Hamburger Edition sein Band »Stalins Retuschen«, der einen Einblick in die Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion bot. Das Buch ließ ahnen, was die von David King (Jg. 1943) in vier Jahrzehnten zusammengetragene Sammlung alles enthält.
Einige der schon in den »Retuschen« enthaltenen Abbildungen sind auch in den aufwendig gestalteten neuen Band »Roter Stern über Rußland« übernommen worden. Hier sind über 550 Reproduktionen von Plakaten, Fotografien, Einbänden und Zeichnungen versammelt, darunter viele Erstveröffentlichungen. In diesem großformatigen Band kommen die ganz- bzw. doppelseitigen Abbildungen in ihrer ganzen Schönheit und Farbenpracht voll zur Geltung.
David King war seit seiner ersten Reise in die UdSSR 1970 auf der Suche nach Zeugnissen über die Ereignisse und die Akteure, die die Welt erschüttert und verändert haben. Weil er sich weder mit den Retuschen noch dem offiziellen Geschichtsbild zufrieden gab, das vor allem Leben, Leistung und Werk von Leo Trotzki ausblendete, genügte ihm, was er in den Vitrinen der Lenin- und Revolutionsmuseen zu sehen bekam, nicht. Auf seinen Reisen suchte und fand er Kontakt zu Künstlern und Sammlern, deren Wohnungen er zu recht mit Oasen der Kultur vergleicht. Bei seinen Streifzügen durch Antiquariate in New York, London, Zürich und Paris kaufte er etliche »Ladenhüter« auf. So dokumentiert der vorliegende Band auf eindrucksvolle Weise, was durch die Komintern zu Propagandazwecken nach Westeuropa gebracht und hier verbreitet worden ist. Über die Hälfte des Bandes ist der Revolution 1917, dem Bürgerkrieg und der Kulturrevolution gewidmet. Nach Lenins Tod wurde Trotzki verdrängt, kaltgestellt, ausgebürgert und schließlich ermordet. In der Agitation und Propaganda rückten nun der von Stalin initiierte Führerkult, die Industrialisierung des Landes sowie die Diskreditierung und Vernichtung der Oppositionellen in der KPdSU (B) in den Vordergrund.
Der hier angezeigte Band bereichert unser Wissen über die Sowjetgesellschaft um eine weitere Facette. Auf ebenso anschauliche wie erschütternder Weise geraten Kontinuitäts- und Bruchlinien in den Blick.
Leider hat der Verlag an der falschen Stelle gespart und auf eine wissenschaftliche Redaktion der von Peter Sondershausen aus dem Englischen übersetzten Kommentare, Bildunterschriften und Texte verzichtet. Nur in Ausnahmefällen wurde auf vorhandene Übersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche, so auf Isaak Babels »Reiterarmee«, zurückgegriffen. Hier zitierte Korrespondenzen und Schriften Lenins wie auch die ersten Dekrete der Sowjetmacht hätten jedoch problemlos mit vorhandenen Ausgaben der in der DDR herausgegebenen Werke und anderen Dokumenteneditionen abgeglichen werden können. Auch einige Bildunterschriften und Zeitschriftentitel (»Smena« bedeutet Wachablösung, nicht Veränderung; »Sibirjatschka« meint Sibirierin) sind falsch übersetzt. Bedauerlicherweise sind auch die Kommentare zu den auf den Fotos abgebildeten Personen spärlich. Erwähnung finden in der Regel nur Vertreter der linken und trotzkistischen Opposition, während deren spätere, auf den Fotos ebenfalls erkennbare Opponenten wie Elena Stassowa oder Alexander Rykow (z. B. auf einem Foto von einer Sitzung des Rates der Volkskommissare) nicht genannt werden. Im zweiten Teil des Buches wiederum sind Fotos aller in den drei Moskauer Schauprozessen 1936 bis 1938 Angeklagten enthalten
Trotz dieser bedauerlichen Mängel ist dies eine einzigartige Pionierarbeit, die ein einmaliges Panorama der Agitationskunst in der Sowjetunion im Vierteljahrhundert von der Revolution 1917 bis zu Stalins Tod im März 1953 zeichnet.
David King: Roter Stern über Russland. Eine visuelle Geschichte der Sowjetunion von 1917 bis zum Tode Stalins. Plakate, Fotografien und Zeichnungen aus der David-King-Sammlung. Mehring Verlag, Essen 2010. 345 S., geb., 39,90 €.
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