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Der Teufel ist los

Tristan Egolfs letzter Roman »Kornwolf«

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer Tristan Egolfs irrwitzigen Roman »Monument für John Kaltenbrunner« gelesen hat, wird die Szenen von Massenschlachtungen in einer Geflügelfabrik nie vergessen – drastische Schilderungen, Ausgeburt von überscharfer Wahrnehmung und äußerster Verletzlichkeit. Nach »Ich & Loise« ist »Kornwolf« Tristan Egolfs dritter und letzter Roman. Am 7. Mai 2005 nahm sich der Autor nach monatelangen Depressionen das Leben – und gab damit seine (!) Antwort darauf, ob solche Verletzlichkeit dauerhaft lebbar ist. Frank Heibert verdanken wir die Informationen über Tristan Egolf, den Unvollendeten, und eine geniale Übersetzung der Schilderung dessen, was sich Unglaubliches in der Kleinstadt Stepford in Pennsylvania abspielt.

Eingestimmt wird der Leser sofort durch atemlose Wortkaskaden: »... Hetze durch Kratzdistel, Stechapfel, Paullinienschlingen – brüchig vom Frosteinbruch – pochendes Tiefrot, behinderte Gliedmaßen stolpern, klatschen in umgestürzten Baumbruch ... In Stepfort und im Amisch-Becken nahe der Stadt ist der Teufel von Blue Ball wieder da, den sie »Kornwolf« nannten, der vor Jahrzehnten hier sein Unwesen getrieben hatte und dann verschwand. Nun aber tauchen auf einmal Bilder von einem Ungeheuer auf. Ein Artikel in der Tageszeitung bricht eine Lawine von Erinnerungen und Vermutungen los. Es folgen Verdächtigungen und Schreckensberichte. Maisfelder werden verwüstet, Schafherden sterben. In einer Kneipe wird einer fast zu Tode geprügelt. Ein riesengroßes Vieh mit grässlich leuchtenden Augen läuft neben dem Auto eines Polizisten her, so dass der die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert .

Das mehrschichtige Handlungsgeflecht des Romans wird zunächst in drei Lebensbereichen verortet. Da ist die Gruppe der Amisch, eine diskriminierte, aber fest gefügte Wiedertäufergemeinde mit altertümlichen Regeln und Ritualen. Die Amisch sprechen eine Art mittelalterliches »Deitsch«, sie fahren keine Autos, nur Pferdefuhrwerke. Zu dieser Gemeinschaft gehört Ephraim Bontragert, ein stummer junger Mann, ein vom Vater geprügelter Außenseiter, der durch sein Verhalten bald zum Prügelknaben ganzer Horden wird. Vorläufig aber hält noch seine Tante Grizelda die Hände über ihn, und sie wird ihm auch die Wunden ölen. Und dann ist da noch die blasse Cousine Fannie, die Ephraim liebt. Beide Frauen werden später Opfer der Hetzjagd.

Der zweite Bereich ist ein Sportclub, in dem der Trainer Jack für Disziplin und Fairness sorgt und in dem ein fulminanter Boxkampf stattfindet. Im Laufe der Geschehnisse wird der Club verwüstet. Und dann ist da vor allem die Öffentlichkeit mit ihrem riesengroßen Apparat an Polizisten, Waffen und Hundestaffeln und einer alles Unheil auslösenden Presse. Die ist überhaupt der Rote Faden des Ganzen. Der Roman beginnt nämlich damit, dass der verkrachte Journalist Owen Brynmor in seine Heimatstadt Stepford zurückkehrt. Eigentlich will er Boxer werden und nur sein Geld bei der Tageszeitung verdienen. Sein Artikel über den »Kornwolf« löst Panik aus. Leute sichten Kobolde, »Negerflitzer«, Werwölfe. Owen sagt es in seinem letzten Artikel voraus, beim nächsten Vollmond kommt der Hexensabbat, den sie Erntesabbat nennen. Da beginnt das große Töten, da wird die Meute zum Riesenmonster. Aber zwei Wesen gelingt die Flucht aus dieser Hölle. Dieses Buch hat keine Helden, nur erstaunliche Wendungen, die die determinierten Geschehnisse durchbrechen.

Tristan Egolf: Kornwolf. Roman. Übersetzt und mit Nachwort von Frank Heibert. Suhrkamp. 431 S., 26,80 €.

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