Sommer auf dem Lande
Marina Rumjanzewa schrieb über die russische Datscha
Die Datscha ist nicht nur ein Haus, sondern »eine Lebensweise«. Sie ist eine Institution mit ihren festen Funktionen und seit Jahrhunderten nicht wegzudenken aus dem russischen Leben. Wir Deutschen verstehen unter »Datsche« mit Sicherheit etwas anderes. Wenn man aber die russische Literatur und die russische Lebensweise im Alltag richtig begreifen will, muss man wissen, was die Datscha wirklich ist. Lew Tolstoi etwa beginnt seine Erzählung »Die Beeren« mit der Beschreibung der »buntverzierten Sommerhäuschen mit krauser Architektur«. Von kleinen idyllischen Hütten bis zu zweigeschossigen eleganten Landvillen kann alles dabei sein, egal, es ist die Datscha.
Marina Rumjanzewa, 1958 in Moskau geboren und aufgewachsen, lebt heute als freie Publizistin in Zürich. Mit ihrer »Kleinen Kulturgeschichte« vermittelt sie uns Westeuropäern auf verführerische Weise, was das Leben auf einer Datscha so besonders macht: Sie ist nicht etwa ein Einfamilienhaus zum dauerhaften Wohnen, sondern existiert stets neben der Stadtwohnung und ist der Inbegriff des Sommeraufenthalts, auf den sich die ganze Familie das Jahr über freut.
Auf die Datscha werden alle Hoffnungen auf Freiraum und natürliche Lebensweise projiziert. Sie ist der Sehnsuchtsraum schlechthin. Eine leichte, zu nichts verpflichtende Sommerliebe rundet das Ganze ab. Die Datschniki, wie sie genannt werden, sind süchtig nach dieser Art der Existenz. Denn, so die Autorin, das Datscha-Syndrom »ist erblich, kann ansteckend sein, und ein großer Teil der russischen Städter hat es«.
Die russische Literatur hinterließ ein lebendiges Porträt des Datscha-Lebens. Seit Puschkin, Turgenjew, Tolstoi, Dostojewski und Tschechow gibt es beinahe keinen bedeutenden russischen Dichter, dessen Literatur nicht auch Ausflüge auf die Datscha unternimmt. So legt denn Marina Rumjanzewa hier zugleich ein Lesebuch mit einer Textauswahl dieser literarischen Zeugnisse vor, die ebenso Lust auf Sommer wie auf Lektüre machen. Stellen Sie sich vor, Sie liegen im Garten einer Datscha, im Schatten hoher Bäume, mit einem Band Tschechow in der Hand ... Auch bei den Schriftstellern des 20. Jahrhunderts wird man fündig, bei Gorki, Bunin, Blok, Sostschenko oder Trifonow.
Tatjana Tolstaja schwärmt in ihrer Erzählung »Saßen auf goldenen Stufen ...«, gewidmet ihrer Schwester Schura: »Die Kindheit war der Garten. Ohne Anfang und Ende, ohne Zaun und Grenze, ein Rauschen und Rascheln, golden in der Sonne, lichtgrün im Schatten, tausend Stockwerke hoch – vom Heidekraut bis zu den Kiefernwipfeln; im Süden der Brunnen mit den Kröten, im Norden weiße Rosen und Pilze, im Westen mückendurchsirrtes Himbeergestrüpp, im Osten Heidelbeeren, Hummeln, das Steilufer, der See, die Stege.« Und um die Verführung perfekt zu machen, enthält die Innenseite des Schutzumschlags einen farbigen Bilderbogen schöner und verwunschener, im Wald versteckter Datschas, neben denen die so charakteristischen russischen Birkenalleen herausleuchten.
Marina Rumjanzewa: Auf der Datscha. Eine kleine Kulturgeschichte und ein Lesebuch. Dörlemann Verlag. 288 S., geb., 21,90 €.
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