Musik und Leidenschaft
Sofja Tolstaja, die Frau von Lew Tolstoi, hat einen überraschenden Roman hinterlassen
Eine schöne junge Frau, empfindsam und musikalisch begabt, führt in Moskau eine unspektakuläre Ehe mit einem wohlhabenden, gutmütigen Mann, der ihre Liebe zur Kunst allerdings nicht versteht. Durch den Tod ihrer Mutter bis ins Innerste erschüttert, findet sie erst im typisch russischen Landleben wieder zu sich, in der Hinwendung zur Natur und zur Musik. Man mietet ein Sommerhaus, und nebenan lebt Iwan Iljitsch, ein begnadeter Komponist und Pianist. Eines Tages hört Sascha das »Lied ohne Worte«; die Klänge Felix Mendelssohn Bartholdys dringen in ihre Seele ein, sie wird gesund, hat wieder Freude am Leben, an ihrem kleinen Sohn. Die Musik heilt sie. Es entsteht eine tiefe Zuneigung und Verehrung der jungen Frau zu dem Musiker, die allerdings einseitig bleibt. Fatalerweise projiziert sie all ihre Sehnsucht nach dem vollen, intensiven Leben auf diesen Mann und seine Musik. Doch je stärker sich die junge Frau in ihre Leidenschaft hineinsteigert, im kommenden Moskauer Winter seinen Konzerten folgt und seinen großen öffentlichen Erfolgen, desto unausweichlicher wird ihre Not.
Wie oft kommt das vor: eine begabte Frau, die ihr Leben unauffällig lebt, ganz in den Dienst eines anderen stellt und erst spät aus dem Schatten ihres berühmten Ehemanns tritt. So ist es auch mit Sofja Tolstaja (1844-1919), der Frau Lew Tolstois. In einer fast 50-jährigen Ehe hat sie dem schriftstellerischen Ruhm des großen Tolstoi gedient, seine Manuskripte abgeschrieben, den großen Haushalt in Moskau und Jasnaja Poljana geführt, 13 Kinder geboren und dabei ihre eigene starke künstlerische Begabung in den Hintergrund gestellt. Erst, als die Kinder erwachsen sind, beginnt sie wieder zu schreiben.
Doch so lange Tolstoi lebt, wagt sie nichts zu veröffentlichen. In ihrem Tagebuch bekennt sie: »Und mein um so viel begabterer Mann! Welch tiefes Verständnis des menschlichen Seelenlebens ist in seinen Werken, welches Unverständnis und welches Desinteresse aber zeigt er für das Leben der ihm Nahestehenden!« Darin werden Abgründe erahnbar, die hier in einer packende Geschichte voller Leidenschaften literarischen Niederschlag finden.
Wunderbar leicht erzählt Sofja Tolstaja, wie sich die Beziehung zwischen ihren beiden Hauptfiguren anbahnt, zart und lebhaft zugleich. Wie Iwan Iljitsch in jenem Sommer auf der Datscha, an den lauen Abenden, im offenen Salon am Flügel sitzt und spielt, Beethoven-Sonaten und immer wieder auch eigene Kompositionen. Die Musik entfaltet ihre besänftigende und ebenso aufwühlende Wirkung. Tief fühlt sich die Erzählerin in die Seele ihrer Protagonistin ein, spürt feinsten Regungen nach – sie selber hat, nach dem Tod des jüngsten Sohnes, ihre Erschütterung erst in der emphatischen Verehrung eines Musikers auffangen können, der ihren Lebenswillen wieder weckt. Das Leben in den begüterten Moskauer Kreisen am Ende des 19. Jahrhunderts ebenso wie in den russischen Frauenklöstern, in denen Sascha Trost sucht, nimmt im Hintergrund Gestalt an. In der Frau explodiert eine derart starke Empfindsamkeit, der sie wehrlos ausgesetzt ist und die sie am Ende zerstört.
Bereits vor zwei Jahren konnte man in der schönen handlichen Manesse Bibliothek der Weltliteratur den ersten Roman von Sofja Tolstaja lesen, »Eine Frage der Schuld«, und das Erstaunen war aufrichtig: Eine literarische Kostbarkeit, und man hatte nichts davon gewusst! Der neue Roman »Lied ohne Worte« wird nun in der selben Manesse Bibliothek zum ersten Mal überhaupt veröffentlicht. Plötzlich steht an der Seite des genialen Lew Tolstoi eine weibliche Stimme, der zuzuhören gleichermaßen Neugier und Genuss weckt.
Sofja Tolstaja: Lied ohne Worte. Roman. Aus dem Russischen von Ursula Keller. Manesse Verlag. 254 S., Leinen, 19,95 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.