Ein tonnenschwerer Kinderfreund
Münchner Ärztin bietet eine ungewöhnliche tiergestützte Therapie an. Damit hilft sie vor allem Kindern mit Konzentrationsproblemen oder Autismus. Der Star ihrer Therapie ist Ringo, ein mächtiger, sechsjähriger Ochse mit wahrhaft stoischem Gemüt.
Ab und zu schnauft Ringo durch seine mächtigen Nasenlöcher. Dann ist es wieder still. Der über 1100 Kilogramm schwere Ochse steht regungslos da und lässt sich von Yasmine bürsten. Als das Mädchen seinen Hals bearbeitet, hebt er genießerisch den riesigen Kopf. »Mei, streckt der sich wieder aus, der Ringo!«, ruft die Achtjährige entzückt und bürstet seinen braunen, haarigen Hals mit Hingabe. Da reckt Ringo den Kopf noch höher.
Ringo ist nicht irgendein Rindviech, sondern ein wohl einzigartiger »Therapie-Ochse«: Seit rund drei Jahren nämlich bietet die Münchner Ärztin Cornelia Baur Menschen mit psychischen Problemen eine tiergestützte Therapie mit Ringo an. Meistens sind es Kinder, die zu ihr auf das Gut Obergrashof bei Dachau kommen, wo das mächtige Tier lebt. »Besonders gute Erfahrungen habe ich bei Patienten mit Aufmerksamkeitsdefiziten und autistischen Tendenzen gemacht«, berichtet Baur. »Sie profitieren vor allem von der enormen Ruhe, die Rinder ausstrahlen.« Außerdem steigert es das Selbstwertgefühl, wenn man einen Koloss wie Ringo an der Leine führen kann: Wenn der Ochse einen Menschen besser kennt, reagiert er auf bestimmte Befehle, geht nach links oder rechts und kann auch das Bein anheben.
Keine Angst vor großen Tieren
Dienstags bekommt Ringo Besuch von Yasmine, die Konzentrationsprobleme sowie eine Leseschwäche hat. Sie freut sich auf die Begegnungen mit ihm. Nein, sagt sie, Angst habe sie nicht vor dem gewaltigen Tier: »Wenn der Ringo ein Mensch wäre, würde ich ihn zu meiner Geburtstagsfeier einladen«, versichert das Mädchen. Jede Therapiestunde beginnt damit, dass die Achtjährige Ringo begrüßt, bürstet und Kontakt aufnimmt, danach darf sie entweder auf ihm reiten oder mit ihm spazieren gehen. »Die Zeit mit Ringo tut ihr gut«, berichtet ihre Pflegemutter. »Sie ist danach viel fröhlicher und ausgeglichener.«
Dass tiergestützte Therapien Menschen mit psychischen Auffälligkeiten helfen können, ist inzwischen auch wissenschaftlich nachgewiesen. Untersuchungen haben gezeigt, dass vor allem autistische Kinder von Therapien dieser Art profitieren, wie die Ärztin Anke Prothmann berichtet, die an der Kinderklinik München-Schwabing das Projekt »tiergestützte Interventionen« leitet. Die positive Wirkung erklärt sie sich mit der Art, wie Tiere Kontakt zum Menschen aufnehmen: Autistische Kinder hätten nämlich oft Probleme mit der menschlichen Kommunikation, die aus einer Kombination von reiner Sprache sowie von Mimik und Gestik bestehe. »Eine rein non-verbale Kommunikation ist für sie leichter zu verstehen«, erklärt Prothmann.
Auch auf das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS) wirkten sich tiergestützte Therapien erwiesenermaßen positiv aus, berichtet Prothmann. »Die Gegenwart eines Tieres führt dazu, dass die Aufmerksamkeit steigt«, sagt sie. Das habe evolutionsgeschichtliche Hintergründe: Wenn ein Mensch in seiner Umgebung ein Tier bemerke, richteten sich all seine Sinne auf dieses Lebewesen – ein angeborener Mechanismus, der Menschen einst vor Angriffen wilder Tiere schützte. Das bewirke, dass sich Kinder durch den Kontakt mit Tieren besser konzentrieren könnten.
Die meisten Untersuchungen dieser Art betreffen allerdings Hunde. »Sie sind am leichtesten zu handhaben«, sagt Prothmann. Rinder sind als therapeutische Helfer dagegen noch selten anzutreffen. Doch Cornelia Baur ist überzeugt von deren Potenzial: Anders als etwa Pferde seien Rinder noch sehr »ursprünglich«, also weniger stark vom Menschen geprägt. »Sie zeigen stets, was ihnen gefällt«, betont Baur. Außerdem würden Rindviecher oft unterschätzt: »Sie sind kluge Tiere«, betont die Therapeutin, »etwa so intelligent wie Hunde.« Daher sei es eigentlich ganz falsch, von »dummer Kuh« zu sprechen.
Vom Mastkalb zum Therapie-Ochsen
Ringo ist sogar richtig gebildet. Denn Yasmine liest ihm oft vor: »Herr Jasper sucht das Glück« heißt das Bilderbuch, das Cornelia Baur für diese Therapiestunde ausgesucht hat. Konzentriert entschlüsselt die Achtjährige die Wörter, und Ringo hört zu. Das ist eine Übung, die sich die Münchner Ärztin speziell für Yasmine ausgedacht hat, um sie zum Lesen zu motivieren: »Sie ist im Umgang mit Ringo freier als mit Menschen«, sagt sie. In der Tat nimmt Ringo es nicht so genau, wenn sich Yasmine verliest – nur Cornelia Baur macht sie sanft darauf aufmerksam: So trainiert Yasmine auf unbeschwerte Art das Lesen.
Ein, zwei Stunden mit Ringo können vielleicht die Laune heben, ein anhaltender therapeutischer Effekt kann sich in so kurzer Zeit kaum einstellen. Da braucht es Geduld. »Einmal die Woche sollten die Treffen schon stattfinden«, erklärt Baur. »Nach sechs Monaten schauen wir dann, wie die Sache steht.« Außerdem ist die tiergestützte Therapie in der Regel nur Teil einer Behandlung: Am effektivsten sei es, die Therapie mit den anderen Ärzten und Therapeuten des Patienten abzustimmen, meint Baur.
Sechs Jahre ist Ochse Ringo inzwischen alt – dass er lebt, verdankt er einem glücklichen Umstand: Eigentlich sollte er als Kälbchen in eine Maststation gebracht und später geschlachtet werden. Nachdem Cornelia Baur eine erschütternden Fernsehreportage über Tiertransporte gesehen hatte, kaufte ihr Lebensgefährte einem Bauern ein junges Kalb ab und schenkte es seiner Freundin, die es fortan hegte und pflegte. »Ich habe dann gesehen, dass Ringo sich über den Kontakt zu Menschen freut«, berichtet Cornelia Baur. »Da habe ich mir überlegt, wie ich ihn in meinen Beruf einbinden kann.« Zunächst bildete die Ärztin Ringo zum Zugochsen aus und stellt dann fest, dass er auch das Zeug zum Therapie-Ochsen hat. »Er muss gehorchen. Das ist allererste Voraussetzung«, betont sie. Wichtig ist auch, dass er »überhaupt kein schreckhaftes Tier ist«. Seinen Namen verdankt er übrigens seinem berühmten Kollegen aus der Fernsehserie »Irgendwo & Sowieso«.
Tiertherapien
Bei tiergestützten Therapien handelt es sich um eine komplementärmedizinische Behandlungsform. Der Kontakt mit Tieren soll sich positiv auf Gesundheit und Wohlbefinden von chronisch Kranken, Behinderten und Menschen mit psychischen Problemen auswirken. Am häufigsten werden Therapien mit Hunden, Delfinen, Pferden und Lamas angeboten.
Bestimmte Effekte der tiergestützten Therapien sind inzwischen auch wissenschaftlich belegt: Unter anderem zeigte sich, dass der Umgang mit Tieren blutdrucksenkend wirkt und durch eine Ausschüttung der »Glückshormone« Endorphine Schmerzen lindert.
Die Bezeichnungen »Tier-Therapeut« und »tiergestützte Therapie« sind jedoch nicht geschützt. Entsprechende Behandlungen können daher auch von selbst ernannten Therapeuten angeboten werden, die keine seriöse Aus- oder Weiterbildung haben. Um Qualität zu garantieren, fordern Experten deshalb eine standardisierte Ausbildung mit Zertifikat. A.S.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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