Zwei Kilo virtuelles Design

»Digital Art. Neue Wege in der Kunst« von Wolf Lieser

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Zeichnende Computer, digitale Kommerzkritik: So ein Buch fehlte bislang. Zumindest im deutschsprachigen Raum. Wolf Lieser, ein leidenschaftlicher Digitalkunstliebhaber und als solcher Betreiber des Digital Art Museums in Berlin, hat die Geschichte von fast fünf Jahrzehnten digitaler Kunst zwischen zwei silbrig glitzernde Buchdeckel gepresst.

Mit seinem zwei Kilo schweren Werk »Digital Art. Neue Wege in der Kunst«, dem natürlich noch eine federleichte DVD beilegt, eröffnet er den Zugang zu einer Welt, die gedanklich oft radikaler als die parallele Kunstwelt ist und in der Kreativität nicht mit der virtuosen Bedienung von Grafikprogrammen verwechselt wird. Vielmehr erzählt Lieser die Geschichte von Männern und einigen Frauen, die ihren Ehrgeiz daransetzten, über die Grenzen dieser Instrumente hinauszugehen. Die Pioniere dieser Kunstform waren Personen, die profane Werkzeuge zweckentfremdeten und dem Reich des freien Spiels übergaben. Am schönsten hat diesen Anspruch wohl die japanische Avantgarde-Gruppe CTG (Computer Technique Group) 1966 formuliert: »Wir werden den anziehenden transzendentalen Charme des Computers zähmen und ihn daran hindern, der etablierten Macht zu dienen. Diese Haltung ist der Weg, um die komplizierten Probleme in der maschinellen Gesellschaft zu lösen«.

Als künstlerische Produktion entstand unter anderem die Silhouette eines laufenden Mannes, die sich in eine Cola-Flasche und dann in den afrikanischen Kontinent verwandelt. »Running Cola is Africa« lautet die Botschaft. Parallel entwarfen im Deutschland der 60er Jahre Frieder Nake und Georg Nees Algorithmen, nach denen die gerade auf den Markt gekommenen Plotter feine Schraffuren und Gitternetze auf das Papier warfen. Sie verdichteten sich teilweise zu Farbflächen und warfen damit ein digitales Echo auf die manuelle Kunst eines Piet Mondrian.

Vera Molnar, die Grand Dame der Computerkunst, entwarf bereits damals mit Hilfe des Computers ihre filigranen Kompositionen. Einen anderen Weg, nämlich die Nachahmung des Analogen und Realen mit den Mitteln des Digitalen, probierten Mitte der 60er Jahre zwei Programmierer der Bell Laboratories. Sie ordneten die Symbole für elektronische Bauteile in einer solchen Art und Weise, dass sie sich aus einer gewissen Entfernung zu einem weiblichen Akt fügten. Ihr Werk »Studies in Perception« ist nicht das Urbild der heute weit verbreiteten Internetpornografie, wie man vermuten könnte. Vielmehr stellt die Arbeit den Gründungsakt aller heutigen Avatare dar. Wesen, die aus nichts anderem als Nullen und Einsen bestehen und die digitalen Persönlichkeiten realer Menschen im virtuellen Universum darstellen.

Lieser weist in seiner Definition digitaler Kunst auf den kategorialen Unterschied zwischen im Computer erzeugter Kunst und lediglich digital bearbeiteter und am Bildschirm ausgegebener analoger Ware hin. Wegen des technischen Charakters der Produktion von digitaler Kunst sieht Lieser sogar eine neue Renaissance heraufziehen. Damals sei Leonardo da Vinci auch Erfinder, Michelangelo auch Ingenieur und Galileo Galilei auch Künstler gewesen, argumentiert er.

Dass da ein faszinierender Zusammenhang bestehen könnte, zeigt auch die in den 90er Jahren entstandene Netzkunst. Das Künstlerpaar jodi.org programmierte Websites, die sich in grafische Bestandteile auflösten. Eva und Franco Mathes entwarfen für die Kunstbiennale Venedig des Jahres 2001 einen Virus, der sich, per Pressemitteilung angekündigt, vom slowenischen Pavillon aus in die Welt verbreitete und die Botschaft verkündete: »Dies ist eine Form von Kunst, die dich findet. Du brauchst nicht ins Museum zu gehen, um sie zu sehen. Das Kunstwerk selber wird dich zu Hause erreichen.« Radikaler noch ging das Künstlerkollektiv Etoy.Corporation voran. Es »entführte« User, die über Suchmaschinen nach Porsche, Penthouse oder Lifestyle suchten, auf von ihnen programmierte Websites.

Die Gruppe Rtmark wiederum kreierte Websites zu multinationalen Unternehmen sowie hochrangigen Politikern, die sich grafisch am Original orientieren, jedoch ansonsten gern unterdrückte Informationen zu Skandalen, Vergehen und Verbrechen enthalten. Mit der derzeit mächtigsten Firma im Netz legt sich die Gruppe Ubermorgen.com an. Im Rahmen von »Google will eat itself« können Projektteilnehmer Google Anzeigenplatz auf ihren Websites zur Verfügung stellen. Die Einnahmen, die ab einer bestimmten Anzahl von Clicks auf die Werbebanner von Google gezahlt werden, fließen auf ein Konto, von dem Google-Aktien erworben werden. Die Aktien werden wiederum an Internet-Nutzer verteilt.

Diese Art der Vergesellschaftung von Google würde allerdings 202 Millionen Jahre dauern, hat Ubermorgen.com errechnet. Diese Erfahrung zeigt: Die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums lässt sich nicht komplett in den digitalen Raum verlagern, selbst wenn dies eine elegante Lösung wäre. Wolf Liesers Reiseführer durch die Welt der digitalen Kunst ruft aber die Potentiale dieses Universalwerkzeugkastens wieder in Erinnerung.

h.f.ullmann, 2010, 276 Seiten, 39,95 Euro

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