Tante Emma und das Piratenmotto

Auch in Hamburg sterben die Krämerläden aus. Vertrauen und Service, sagt Wolfgang Kreykenbohm, erwartet niemand mehr – Hauptsache billig

  • Julian Mieth, dpa
  • Lesedauer: 6 Min.
Es gibt ihn noch, den Tante-Emma-Laden. Ob Schokolade, Waschmittel, Wurst, Gemüse, Zahnpasta: Hier gibt es alles Lebensnotwendige. Noch – das Geschäft lohnt schon lange nicht mehr. Seit Jahren nimmt die Zahl der Krämerläden ab, auch in Hamburg.

Hamburg. Wie jeden Freitagmorgen dreht Wolfgang Kreykenbohm den Zündschlüssel um und wünscht sich zurück ins Bett. Mit dem Motor geht auch das Radio an: »Es ist vier Uhr, die Nachrichten.« Im grellen Scheinwerferlicht seines Transporters tauchen die hölzernen Auslagen auf, über der Eingangstür des Ladens in Hamburg-Alsterdorf strahlt in sattem Blaugelb: Feinkost Kreykenbohm. Dann lenkt er den Wagen auf die Straße – Ware kaufen.

Eine halbe Stunden später erreicht der 60-Jährige den Hamburger Großmarkt – Handelszentrum für den ganzen Norden. Alle zwei bis drei Tage kauft er hier Obst, Gemüse und Blumen. Er bleibt vor einem Metallregal mit Margeriten stehen. »Was hast du denn heute für einen Gammel im Angebot?«, ruft er. Der Großhändler lacht und antwortet: »Du siehst auch jeden Tag trostloser aus.«

60 Euro Tagesgewinn

Kreykenbohm eilt weiter in die Obst- und Gemüsehalle. Rhabarber aus dem Umland ist eingetroffen, fünf Euro das Kilo. Kreykenbohm verzieht das rosige Gesicht und streicht sich über die struppigen dunklen Haare. Obwohl der Preis besser sein könnte, nimmt er eine Kiste. »Meine Kunden legen Wert auf frische, lokale Produkte.« Mittlerweile ist es kurz vor fünf. Zu Hause wird er sich nochmals hinlegen. Je früher er nun nach Hause kommt, desto mehr Schlaf bleibt ihm. Seine Wohnung liegt gleich hinter dem Laden im Norden der Stadt.

Rund 350 Tante-Emma-Läden gibt es nach Angaben des Hamburger Einzelhandelsverbandes derzeit noch in der Hansestadt – und jedes Jahr werden es weniger. In ganz Deutschland sind es vielleicht noch 12 000, auf dem Lande weniger als in den Städten. »Auf einen Euro bleiben mir sieben Cent Gewinn. Dafür bücken sich die meisten erst gar nicht. Ich sag dafür aber ›Guten Tag‹, ›Was darf es sein‹, ›Hat es Ihnen gefallen‹ und ›Auf Wiedersehen‹«, sagt Kreykenbohm. Am Tag blieben so 40 bis 60 Euro Gewinn.

Seit sieben Uhr hat Kreykenbohm die Regale aufgefüllt. Jetzt sitzt der 60-Jährige schläfrig auf einem Barhocker am Eingang und schreibt Preisschilder. Das Schälchen Himbeeren für 2,99 Euro, das Stück Kuchen »Frankfurter Kranz« für 1,50 Euro. Von der hinteren Ladenwand surrt die Kühlung der alten Wurst- und Käsetheke.

Um ihn herum türmen sich zwei Meter hohe Wandregale: Konserven, Zeitschriften, Getränke, Klopapier – hier findet sich nahezu alles, was man zum Leben braucht. Auch, wenn die Suche in dem knapp 40 Quadratmeter großen Warenhimmel ein wenig Zeit in Anspruch nimmt. »Kann ja jeder fragen, wenn er was sucht«, erklärt der Kaufmann das geordnete Durcheinander.

Ursprünglich hatte Großmutter Marie den Laden 1934 als Brotgeschäft gegründet. Weit mehr als 300 Haushalte versorgten sich hier mit Brot und anderen Teigwaren. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg lief das Geschäft gut. Damals glich die Straßenecke im Hamburger Stadtteil Alsterdorf noch einem Einkaufszentrum: nebenan reihten sich Milchmann, Schlachter, Gemüse- und Kolonialwarenhändler, Schuster und Wirtschaft.

»Du ollen Klookschieter«

Übriggeblieben ist nur der Brotladen, den der Vater um weitere Lebensmittel erweiterte. Mitte der 1970er Jahre übernahm Wolfgang Kreykenbohm den Laden. Da war er gerade einmal 26 Jahre alt, geplant war die Übernahme nicht. Damals stand der Jurastudent kurz vor dem zweiten Staatsexamen: Rechtsanwalt wäre er geworden. Als der Bruder den Laden nicht wollte, sah er sich in der Pflicht.

Eine Kundin rollt mit ihrer Gehhilfe in den Laden, im Einkaufsnetz baumelt eine Packung Tomaten. »Frau Pennau, Sie wissen doch, dass der Käufer gemäß Paragraf 433 BGB verpflichtet ist, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen«, ruft Kreykenbohm. »Erst dann dürfen Sie die Ware in ihre Tasche stecken, sonst machen Sie sich strafbar.« Frau Pennau winkt ab: »Du ollen Klookschieter, sabbel di doot.« Die 90-Jährige kennt Kreykenbohms Humor. Seit über 70 Jahren kauft sie hier ein.

Als Kreykenbohm sich umdreht und zur Kasse schlurft, scheint auf seinem Rücken ein Schriftzug durch den weißen Kittel: »Wir lieben Lebensmittel.« Darunter das Logo der genossenschaftlich organisierten Edeka-Gruppe, in der auch er Mitglied ist. Von Liebe zum Produkt kann nach mehr als 35 Jahren im Geschäft keine Rede mehr sein. Manchmal, wenn er nachts Hunger bekommt, geht er in den Laden und überlegt, worauf er Appetit hat. Meist fällt ihm nichts ein. »Am meisten freue ich mich über Selbstgemachtes, das schmeckt immer anders.«

Sanddorn-Dragees, Bio-Mangos oder neuseeländisches Lammfilet – im Sortiment verwundern zahlreiche Produkte, die sonst eher in Reformhäusern oder angesagten Alternativmärkten erhältlich sind. »Kundenwünsche«, knurrt Kreykenbohm. Reich wird er damit nicht. Stünde die Bio-Soja-Kakao-Milch aber nicht im Regal, ginge die Kundschaft woanders hin. »Meine Großmutter rechnete immer in Brot-Metern«, erinnert er sich. »War ein Kunde verloren, breitete sie die Arme aus und jammerte: Soviel Brot hätte der in diesem Jahr gekauft.«

Bis vor 15 Jahren sei man noch gut über die Runden gekommen, sagt Kreykenbohm und fährt sich durch die dunklen, drahtigen Haare, die schon seit einigen Jahren silbern schimmern. »Das Problem sind nicht die großen Supermärkte, sondern die Discounter«, seufzt er. Die Leute hätten heutzutage weniger Geld.

Lange glaubte er, das mit Service ausgleichen zu können: Lieferung frei Haus. Namen und Einkaufszettel vieler Kunden kennt Kreykenbohm auswendig. Als ein Stammkunde arbeitslos geworden war und seine Einkäufe nicht mehr bezahlen konnte, räumte Kreykenbohm ihm einen Kredit von mehr als 800 Euro ein. »Man lässt doch einen Menschen nicht so einfach verhungern.«

Zwei Brötchen, mehr nicht

Vertrauen und Service – das erwarte heute niemand mehr, sagt er. Hauptsache billig. Fünf bis zehn Cent berechnet er mehr als die großen Supermarktketten. Der Preis sei aber nicht allein das Problem, sagt er. Auch das Angebot spiele da eine Rolle. Zwar bekomme man bei ihm fast alles. »Aber eben nicht jedes Produkt in zehnfacher Markenausführung.«

Eine junge Frau mit Sonnenbrille eilt herein und verlangt zwei Brötchen. Kreykenbohm legt den Kopf schief und lächelt. »Lesen, Naschen, Rauchen, Trinken – wozu kann ich die Dame denn noch verführen?« Die Kundin lächelt, bleibt aber bei ihrer Bestellung und geht. »Laufkundschaft, davon habe ich genug«, sagt der Krämer. »Mit diesen Kleckerbeträgen verdiene ich kein Geld. Da halte ich mich an das Helgoländer Piratenmotto: Ausbooten, Ausbeuten, Einbooten.«

Aber ist er denn nicht stolz, sein eigener Herr zu sein? »Ich kann es mir ja nicht mehr aussuchen. Niemand stellt einen 60-Jährigen ein. Und ein Jurist, der vor über 30 Jahren studiert hat, ist doch eine Lachnummer. Also muss ich weiter machen – bis zum bitteren Ende.«

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