Notfalls auch Ungefährliche wegsperren?
Koalition im Streit um Sicherungsverwahrung zwischen Populismus und Rechtsstaatlichkeit
Immerhin – nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur nachträglichen unbefristeten Verlängerung der Sicherungsverwahrung sehen der CDU-Bundesminister und seine FDP-Kollegin Handlungsbedarf. Zwar will Leutheusser-Schnarrenberger die Entscheidung in den betroffenen 70 bis 80 Fällen der Justiz überlassen. Obwohl die Europa-Richter den nachträglich angeordneten Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit schon im Dezember 2009 als menschenrechtswidrig beurteilten, sind die meisten noch hinter Gittern.
Das letzte Wort soll nach Vorstellung der Ministerin der Bundesgerichtshof (BGH) haben, um für einheitliche Maßstäbe zu sorgen. Immerhin hatten vier Oberlandesgerichte und der 4. Strafsenat des BGH Freilassungen Sicherungsverwahrter verfügt, während vier andere das ablehnten. Die Interpretation der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Europa-Richter könne nicht mit den Bestimmungen des deutschen Strafrechts (StGB) in Einklang gebracht werden, so dass der Gesetzgeber tätig werden müsse.
Bei den aktuell zu Entlassenden sieht die Justizministerin die Länder in der Pflicht, alle Möglichkeiten der im Strafrecht geregelten Führungsaufsicht auszuschöpfen. Dabei könne eine elektronische Überwachung von als gefährlich eingestuften Gewalt- und Sexualstraftätern, etwa per »Fußfessel«, der Polizei die Arbeit erleichtern.
Doch während Leutheusser-Schnarrenberger, gestützt durch einen Kabinettsbeschluss, die Sicherungsverwahrung generell auf den Prüfstand stellen und als »allerletztes Mittel« offenbar auf Sexual- uns andere Gewaltstraftäter beschränken will, plädiert der Innenminister für eine »neuartige Unterbringung« für rückfallgefährdete entlassene Straftäter. Sie solle sich von Gefängnis und Psychiatrie unterscheiden und könne »ohne großen Aufwand« an den Standorten bestehender Justizvollzugsanstalten geschaffen werden. Hingegen betonte die Justizministerin gestern, »dass der Bund hier meiner Einschätzung nach kaum rechtlichen Spielraum hat, noch einmal eine zwangsweise dauerhafte nachträgliche Sicherheitsunterbringung zu regeln«.
Das hat auch damit zu tun, dass Sicherungsverwahrung laut Strafgesetzbuch (StGB) als »Maßregel der Besserung und Sicherung« gilt, der EGMR sie aber als Strafe nach der Strafe bewertet, weil sie sich häufig kaum oder gar nicht von Strafhaft unterscheidet. Im entscheidenden Punkt wirkt sie eher negativ: Wann und ob der Freiheitsentzug überhaupt einmal endet, liegt im Ermessen von Gutachtern, Justizvollzugsbeamten und mit Gefährlichkeitsprognosen überforderten Richtern.
Die Ministerin räumt »Schwächen« der Sicherungsverwahrung ein. Der Deutsche Anwaltverein nennt sie ein »Übel« und stellt in Frage, ob sie »notwendig« sei. Jedenfalls müssten mehr Therapieangebote zur Verfügung stehen, die Intervalle der Überprüfung, ob Freiheitsentzug noch nötig ist, auf ein Jahr verkürzt werden. Bei einer Debatte am Mittwoch in Berlin kamen Studien zur Sprache, wonach nur 20 bis 30 Prozent der »Verwahrten« wirklich noch gefährlich sind. Frank Lüttig, zuständiger Abteilungsleiter in Niedersachsens Justizministerium, bestritt das einerseits. Anderenfalls aber müsse man eben in Kauf nehmen, 70 oder 80 Prozent der Betroffenen unnötig einzusperren, um die Allgemeinheit vor den gefährlichen zu schützen.
Populistische Sicherheitsfanatiker in CDU und CSU nehmen heute die Parolen von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) auf, der einst verlangte, Kinderschänder müsse man »wegsperren – und zwar für immer«. Oder sie fordern wie der Chef der kleinen Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, nach US-Vorbild die Adressen entlassener Gewalttäter ins Internet zu stellen und so ein Klima der Lynchjustiz zu schüren.
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