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»Die Wahrheit steht im ND«
Neue Anweisungen und Materialien zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit im Unterricht
Wer als Anhalter in der DDR unterwegs war, »galt als subversiv«. Die Wehrerziehung habe nur vorgeblich der Verteidigung in einem möglichen Krieg gedient. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, »dass sie vor allem zur Disziplinierung der Bevölkerung eingesetzt wurde«. Der Atheismus im Osten habe dazu beigetragen, dass sich Menschen dazu hergaben, Spitzeldienste für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zu leisten.
Solche gewagten Thesen sind ab dem kommenden Schuljahr Unterrichtsstoff. Das Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) brachte eine neue Arbeitsmappe heraus. Ihr Titel: »Opposition und Repression in der DDR«.
Wenn es um die DDR geht, dann interessieren sich Abiturienten aus Nordrhein-Westfalen in erster Linie für Staatssicherheit und Verfolgung. Jugendliche aus Brandenburg dagegen vermissen in der Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit den Aspekt des Alltags und sie kritisieren den einseitigen Blick allein auf die Stasi. Das weiß LISUM-Direktor Jan Hofmann. Das weiß auch Olaf Weißbach, Geschäftsführer des Robert-Havemann-Archivs. Der westdeutsche Außenblick sehe vor allem den Unterdrückungsapparat, die ostdeutsche Innensicht reklamiere häufig »ein normales Leben in der Diktatur«, schreiben sie im Vorwort zur Arbeitsmappe. Bei der Mappe handelt es sich keineswegs um die erste Veröffentlichung des Instituts in dieser Richtung. In die Liste gehören beispielsweise: »Die DDR im (DEFA-)Film« (2010), »Die Friedliche Revolution 1989/90« (2009), »Deutschland – einig Fußballland?« (2008) und »Feindliche Jugend« (2007).
Zum neuen Schuljahr gibt es in Brandenburg außerdem neue Rahmenlehrpläne für die Fächer Geschichte und politische Bildung. Sie sehen vor, dass die DDR bereits ab Klasse 7 behandelt wird. Bisher war dieses Thema erst in der 9. und 10. Klasse dran.
Immer wieder werden Vorwürfe laut, der DDR werde im Unterricht zu wenig Beachtung geschenkt. »SPD und Linkspartei haben sich der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit bisher bestenfalls halbherzig gestellt«, behauptet etwa Conrad Clemens, Vorsitzender der Berliner Jungen Union. »Auf dem Papier und in Lippenbekenntnissen werden die Verbrechen der DDR zwar verurteilt, in der Praxis wird dem Vergessen und der Verklärung Vorschub geleistet.« Die Behandlung der DDR komme in der Schule zu kurz. Clemens wünscht sich, dass dem Thema mehr Gewicht eingeräumt wird. Er fordert, Lehrpläne zu ändern, Exkursionen zu Gedenkstätten zur Pflicht zu machen.
Für Jugendliche besteht oft ein deutlicher Widerspruch zwischen dem, was sie in Zeitungen über die DDR lesen und im Fernsehen darüber sehen und dem, was die Eltern daheim beim Abendbrot erzählen. Herrschaft und Alltag können aber nicht auseinander gehalten werden, argumentieren Hofmann und Weißbach. Es kennzeichne Diktaturen, »dass sie eine möglichst umfassende Kontrolle auch über den Alltag ausüben wollen«.
Neben Informationen über Robert Havemann, Wolf Biermann und die Rockgruppe »Renft« gibt es in der Arbeitsmappe einen Abschnitt über die gefälschte Kommunalwahl von 1989. Dazu ist die Titelseite des ND vom 8. Mai 1989 abgebildet. »98,85 Prozent stimmten für die Kandidaten der Nationalen Front«, lautete die Schlagzeile. Eine Frau erinnert sich, wie man alle Abgeordneten in Berlin-Weißensee auf die Wahlfälschung aufmerksam gemacht habe: »Da wurde uns zum Beispiel gesagt: ›Es kann nur eine Wahrheit geben, und die steht im ND.‹«
Vornehmlich rankt sich die Mappe um das Schicksal des Theologen Stephan Bickhardt. Er gehörte mehreren oppositionellen Gruppen an und stand deshalb unter Beobachtung. Bickhardt schildert zum Beispiel, wie drei von Jürgen Fuchs und Wolf Biermann bezahlte Druckmaschinen aus dem Westen in den Osten gelangten. Ein Bundestagsabgeordneter der Grünen brachte sie mit dem Auto zu Bickhardt, weil der Parterre wohnte. Doch Bickhardt weigerte sich, die Maschinen durchs Fenster gereicht zu bekommen. Er glaubte, in der Umgebung »bestimmt 20 Stasi-Leute« zu erkennen. Bickhardt leitete das Auto um zur Familie Wolfgang Ullmanns, die auf Kirchengelände auf dem zweiten Hinterhof lebte.
Bickhardt verhielt sich nach eigener Darstellung immer vorsichtig. Er wollte nicht im Knast landen wie sein Großvater, der zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Der Großvater war unter anderem mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe Informationen aus der Stahlindustrie an westdeutsche Unternehmen gegeben. Erst durch die Recherchen für die Arbeitsmappe erfuhr Bickhardt, dass sich der Großvater im Zuge seiner Haftentlassung als Inoffizieller Mitarbeiter des MfS anwerben ließ.
Die Schüler sollen sich ihre Meinung bilden, sie sollen einzelne Menschen beurteilen, die sich für eine Zusammenarbeit mit dem MfS entschieden hatten, sollen sich zu den Motiven äußern. Und sich bei Gesprächen mit Zeitzeugen klar machen, dass Erinnerungen persönlich gefärbt sind, dass Negatives oft und gern verdrängt wird, dass es nie nur die eine oder gar wahre Geschichte gebe. »Um der Vergangenheit möglichst nahe zu kommen, brauchen wir immer mehrere Wahrnehmungen, Erinnerungen, Deutungen und Geschichten.«
»Meine Sicht«, Seite 11
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