Mit 70 fängt das Leben erst an

  • Ernst Röhl
  • Lesedauer: 3 Min.
Flattersatz – Mit 70 fängt das Leben erst an

Neulich wurde ich, unfreiwillig, Ohrenzeuge eines Gesprächs zweier Rentenexperten. Das heißt, beide waren Rentner, der eine ein bisschen mehr Optimist, der andere mehr Realist. Und ohne deutschen Politikern und Politikastern zu nahe treten zu wollen, muss ich zugeben, dass der eine dieser beiden besser im Stoff stand als die ganze schwarzgelbe Regierung. Vertrauensvoll schwärmte der optimistische Ruheständler: »Mir juckt die Hand! Ich glaube, wir kriegen bald ein bisschen mehr Rente.« Der Realist sah das ganz anders, realistisch eben, er kommentierte hintergründig: »Und mir, mein Lieber, juckt der Arsch, ich glaub, sie scheißen uns wieder an.«

Dieser Prognose könnte sich Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, jederzeit anschließen, ohne Positionen preisgeben zu müssen. »Wir brauchen viel mehr Flexibilität, was das Arbeiten im Alter angeht«, verriet er der Zeitung Rheinische Post. Perspektivisch, präzisierte er, werde »die Rente mit 70 kommen müssen«. Genau das hatte sich der realistische Rentner auch schon gedacht.

Die beiden Hardliner entfernen sich mit ihrer Auffassung allerdings um drei lange Jahre von den Vorstellungen des Basta-Kanzlers Gerhard Schröder, Franz »Münte« Münteferings und Martin Kannegießers. Kannegießer ist Präsident des Arbeitgeberverbands der Metall- und Elektroindustrie. Verzweifelt mahnt er die SPD zur »Geradlinigkeit« und warnt sie vor einem »Abrücken« von der Rente mit 67. Die Damen und Herren Genossen von der SPD wissen natürlich genau wie Kannegießer, dass der französische Glamour-Premierminister Sarkozy allein schon mit seiner beabsichtigten Erhöhung des französischen Renteneintrittsalters von 60 auf 62 eine revoluzzerhafte Situation heraufbeschwor.

Vorsichtshalber redet deshalb keiner darüber, welch Glückspilz der deutsche Beamte ist: Schon körperliche Anwesenheit im Amt wird ihm als Dienst an der Allgemeinheit gutgeschrieben, und er geht selbstverständlich bereits mit 60 in Rente, spätestens. Daher offenbar der Gedankenblitz der FDP, die plötzlich und unerwartet eine Rente mit 60 vorschlägt, natürlich mit fetten Abschlägen, um die wünschenswerte Altersarmut zu sichern.

Der deutsche Volksvertreter wiederum kann, wenn er will, nach achtzehn Jahren Kräfte zehrender Abgeordnetentätigkeit mit 57 in Pension gehen. Mit jedem weiteren Jahr Zugehörigkeit zum Bundestag entsteht der Pensionsanspruch ein Jahr früher. Und mit jedem Jahr erhöht sich seine Pension automatisch um 2,5 Prozent auf maximal 5175,90 Euro im Monat – macht 67,5 Prozent der Diäten. Mit anderen Worten: Rente mit 67,5. Übrigens erhält Otto Normalrentner 67,5 Prozent vom Brutto nicht mal annähernd nach fünfundvierzig Jahren Berufstätigkeit.

Nun möchten Wohlmeinende die hanebüchene Rentendiskussion gern unter Wirklichkeitsverlust abbuchen – wie kürzlich noch die Schnapsidee der liberalen Spaßpolitiker, die sich von leeren Staatskassen nicht daran hindern ließen, ihren bestverdienenden Freunden weitere Steuersenkungen zu verheißen. Wirklichkeit stellt sich, nach einer Faustregel Dr. Kohls, oftmals ganz anders dar als die Realität, doch egal, ob Realität oder Wirklichkeit: Achtzig Prozent der älteren Arbeitskräfte haben, wie jeder weiß, derzeit überhaupt keine Chance auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Darum geistert neuerdings wieder das Phantom der Vollbeschäftigung durch die Bimbesrepublik Deutschland, und die Wirtschaft verspricht Jobs ohne Ende…

Aber Achtung! Bei den Renten schleicht sich schnell mal ein Fehler ein. Erst kürzlich sind der Rentenversicherung massenhaft fehlerhafte Rentenbescheide unterlaufen; die Nachzahlungen an die Betroffenen belaufen sich auf 14,5 Millionen Euro. Darum hilft nur noch Beten; denn Zahlendreher sind nicht auszuschließen. Wie schnell wird aus einer Rente mit 67 die Rente mit 76! Wenn schon Rentenkürzung, dann aber richtig.

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