Ein alter Herr in der Gartenlaube
»Eine Gerechte und Zwei Schwestern« von Friedrich Grotjahn mit Zeichnungen von Horst Dieter Gölzenleuchter
Eine Gerechte« ist die Hommage an eine alte Frau, die in den letzten Kriegsjahren ein jüdisches Mädchen bei sich versteckt hielt und vor der Deportation in ein Todeslager rettete. Die Fünfjährige weigert sich entschieden, statt ihres richtigen Namens Sarah den Tarnnamen Magdalene zu gebrauchen. Sie beschwört damit gefährliche Situationen für sich und die kleine Familie der Frau herauf, deren Mann, ein Dorfpfarrer in Niedersachsen, als Soldat in Russland kämpft. Die herbe Erzählung, hinter der konkrete Erfahrungen aus der Familie des Autors stehen, ist so ganz anders als die Geschichten, die man sonst über vergleichbare Rettungsaktionen zu lesen bekommt. Dort geht es vorwiegend um bestandene Gefahren, mutige Schmuggelaktionen und gewagte Urkundenfälschungen, gelegentlich auch um »gute« Nazis, die etwas gemerkt haben, aber alle Augen zudrücken. Hier aber geht es um Grenzen des Verstehens, um seelische Verwundungen – und um Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft unter größter innerer Belastung. Auf ihrem letzten Lager erfährt die alte Frau von der »Allee der Gerechten« in Israel, wo man Rettern von Juden Bäume pflanzt. Sie findet das gut. Obwohl ihr niemand dort einen Baum gewidmet hat.
»Zwei Schwestern« berichtet von einem Zwillingspaar aus dem Ruhrgebiet. In ihrem Verhalten und in ihrer Weltsicht sind die alten Frauen gänzlich verschieden. Der Untertitel verheißt deshalb programmatisch: »Das unübersichtliche Leben der Hanna W. übersichtlich dargestellt von ihrer Schwester Lisbeth.« Diese Hanna W. muss eine ganz besondere Ruhrgebietspflanze gewesen sein, unangepasst, willensstark, draufgängerisch-mutig. Anhand von vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos aus einem Schuhkarton im Nachlass erzählt Lisbeth eine Abfolge von Zeitereignissen und wie Hanna darin agiert beziehungsweise darauf reagiert hat.
Vor uns entstehen die Verhältnisse im NS-Staat – Rassendiskriminierung, Kirchenkampf, Kriegsalltag. Aber Hanna, die Antifaschistin, kriegt es hin, einen Halbjuden zu heiraten, als Katholikin mit dem evangelischen Pfarrer eine Propagandaversammlung der Deutschen Christen zu sprengen, einen alten jüdischen Herrn erst lange in einer Gartenlaube zu verstecken und ihn dann offiziell als Rotkreuzschwester in die Schweiz zu eskortieren.. Und nach dem Kriege wird sie eine richtige handfeste Friedensfrau: Sie protestiert gegen die Wiederaufrüstung der BRD, ist Ostermarschiererin der ersten Stunde, entfernt nach dem Volkstrauertag die Kränze am Ehrenmal der Stadt und schichtet sie sorgfältig dahinter auf, legt sich mit Polizisten und Staatsanwälten an, weigert sich, die Volkszählungsbogen auszufüllen, und, und, und ...
Liesbeth erzählt viel und farbig. Und sie hält dabei ihre eigenen Kommentare nicht zurück, Kommentare voller Bewunderung für die Schwester. Aber es fallen auch kritische Sätze, die zeigen, wes Geistes Kind Lisbeth ist. Wie verschiedenen können sich doch Zwillinge im gleichen Kontext entwickeln!
Friedrich Grotjahn hat einen höchst wirksamen literarischen Kniff angewandt, um Aufmerksamkeit und Spannung des Lesers zu fesseln: Er bringt den Leser in die Situation, dass er Zeuge eines Vorgesprächs wird. Lisbeth erzählt anhand von Fotos Episoden aus dem Leben ihrer Schwester. Der andere Dialogpartner – und mit ihm der Leser – hört aufmerksam zu. Am Ende verständigen sich Lisbeth und ihr Besuch auf einen Aufnahmetermin. Was der Leser »mitgehört« hat, war nur vorläufig. Dadurch, so scheint mir, wird jegliche moralisierende Tendenz, wenn sie sich denn aus den Episoden entwickeln könnte, vermieden.
Die beiden Erzählungen werden illustriert, besser sollte ich sagen: kommentiert durch Tuschzeichnungen von Horst Dieter Gölzenleuchter. Eigentlich kannte ich bisher von diesem Bochumer Künstler nur Holzschnitte. Wie bei diesen beruht auch bei Tuschzeichnungen die Wirkung auf dem Entweder-Oder des Schwarz-Weiß-Gegensatzes; es fehlen eben verschiedenfarbige Zwischenstufen. Aber diese Arbeiten mit dem Tuschpinsel wirken weicher als Holzschnitte, sind fließender an den Rändern. So sprechen sie auf ihre Art den Leser an und laden ihn zum Nachdenken ein. Für mich unterstreichen sie bestimmte Momente in der Erzählung: Seite 35 – Der Nazibürgermeister, die Staatsautorität, thront hinter seinem Amtsschreibtisch – wachsam stehen Sarah und die Pfarrfrau vor ihm, ihre Haltung zeigt Vorsicht und Kampfbereitschaft zugleich. Wer wird sich durchsetzen? Oder Seite 104 – Der einsame Jude im Versteck der Gartenlaube – und Mitwisser, die sehen und schweigen, oder sehen und Verdacht schöpfen? Wie wird das ausgehen?
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