Kein Abschied vom Aufbau Ost
Der Deutsche Gewerkschaftsbund feierte 20 Jahre Bestehen in den neuen Bundesländern
Schon der Weg vom Leipziger Hauptbahnhof zur »GaraGe«, dem Technologiezentrum für Jugendliche, stimmt auf das Thema des Tages ein. Der Veranstaltungsort der 20-Jahr-Feier des DGB liegt in Plagwitz, einst großer Industriestandort und Arbeiterbezirk. Rund 80 Prozent der Betriebe in Plagwitz stellten nach der Wende ihren Betrieb ein. Heute liegen sanierte Wohnhäuser neben unsanierten, Industriebrachen maroden Fabrikhallen, die von Künstlern temporär genutzt werden oder leer stehen. Aber hier ist kein Stillstand, an allen Ecken und Enden wird gebaut, erneuert, saniert.
»Der Veranstaltungsort ist bewusst gewählt«, sagt später die Vorsitzende vom DGB-Sachsen, Iris Kloppich. Mit dem Zusammenbruch der volkseigenen Betriebe gingen in Plagwitz tausende Arbeitsplätze unter. »Hier ist der beste Platz, an dem man erkennen kann, was vor 20 Jahren hier gestanden hat, wie Deindustrialisierung wirkt und was es Neues gibt.« Zusammen mit den Vorsitzenden der anderen ostdeutschen DGB-Bezirke, Renate Licht (Thüringen), Doro Zinke (Berlin-Brandenburg), Udo Gebhardt (Sachsen-Anhalt) und Ingo Schlüter (Mecklenburg-Vorpommern) hat sie zum Festakt nach Leipzig eingeladen. Schon an den Namen könne man erkennen, sagte Kloppich unter dem Applaus der 150 Gäste: »Im Osten haben sich die Frauen durchgesetzt«. Unter den Anwesenden sind Gewerkschafter aus ganz Deutschland, der polnischen Solidarnosc und nordböhmischen Bergarbeitergewerkschaft sowie Politiker, Wirtschafts- und Kirchenvertreter.
Am 4. Dezember 1990 wurde die Gründung der ostdeutschen DGB-Landesbezirke beschlossen. Der damalige DGB-Vorsitzende Hans-Werner Meyer, der 1994 überraschend nur 63-jährig verstarb, habe alle Kraft in den Aufbau der neuen Strukturen gesetzt, betonte Kloppich.
Unterschiedliche Herangehensweisen
Als der DGB vor 20 Jahren in den Osten kam, trafen die Gewerkschafter auf eine differenzierte Gemengelage. Die einen blickten kritisch ablehnend auf die Westkollegen, andere begrüßten sie, wieder andere wollten mit Massenorganisationen überhaupt nichts mehr zu tun haben. Viele westdeutsche Gewerkschafter sahen die Ausdehnung in den Osten als unvermeidlich an – in der Stimmung 1990 wurden die politischen, rechtlichen und sozioökonomischen Strukturen in einem hohen Tempo in die neuen Bundesländer übertragen.
»Der Aufbau der Mitgliedsgewerkschaften und des DGB stand im engen Zusammenhang mit den gesamten Prozessen der Gestaltung der deutschen Einheit«, sagte Kloppich. Dazu gehörten der Aufbau von Regierungen und Verwaltungen, von Verbänden, Kammern und Sozialversicherungsträgern. Die DGB-Gewerkschaften mussten mitziehen, um ihre Position gegenüber Staat und Wirtschaft zu behaupten und auszubauen, schreiben die Wissenschaftler Michael Fichter und Maria Kurbjuhn von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in ihrer jetzt zum aktuellen Anlass neu aufgelegten Studie »Spurensicherung« von 1993. Zudem hätten Umfragen unter Mitgliedern der FDGB-Gewerkschaften ergeben, dass diese keineswegs »gewerkschaftsmüde« waren, aber andererseits kaum noch Vertrauen in den FDGB hatten. Die Erwartungen an die DGB-Gewerkschaften seien im Gegenteil außergewöhnlich hoch gewesen.
In der lesenswerten Studie berichten Fichter und Kurbjuhn von vier unterschiedlichen Strategien, mit denen die Gewerkschaften an den Aufbau in Ostdeutschland herangegangen seien. Erstens gab es die Gewerkschaften, deren »satzungsmäßige Ausdehnung auf die neuen Bundesländer eng verbunden war mit den inneren Umstrukturierungen sowie dem Auflösungsprozess der FDGB-Gewerkschaft«. Das gilt beispielsweise für die IG Medien, die IG Bergbau und Energie (IG BE) oder die Eisenbahnergewerkschaft. Nach einer ersten Phase der Kooperation zu Beginn übernahm die jeweilige DGB-Gewerkschaft eine leitende Funktion der FDGB-Gewerkschaft beim Neuaufbau, mit dem Ziel der Angleichung der Strukturen und dem Zurückdrängen des Einflusses leitender FDGB-Funktionäre.
Die zweite Variante war nach einer ersten Kooperationsphase der Abbruch des Reformprozesses bei der FDGB-Gewerkschaft und eine Neugründung der DDR-Gewerkschaft unter gleichem Namen – mit Zustimmung und Unterstützung der FDGB-Partnergewerkschaft. Das Ziel war hier die Schaffung einer neuen Gewerkschaftsidentität. Beispiele sind die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Einen dritten Typus nennen die Forscher am Beispiel der Gewerkschaften Erziehung und Wissenschaft (GEW), Transport und Verkehr oder der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Hier wurden DDR-Gewerkschaften neu gegründet, unter bewusster Abgrenzung zum FDGB und teilweiser Zusammenarbeit mit unabhängigen Gruppen wie der Bürgerbewegung. Die IG Metall bildete viertens eine »Gruppe« für sich. Sie kooperierte zunächst eng mit der DDR-IG-Metall, brach das aber bald ab, begleitete und kontrollierte danach deren Reformprozess. Im Unterschied zu den ersten beiden Gruppen sei sie indes nicht bereit gewesen, Funktionäre der DDR-IG-Metall zu übernehmen, heißt es in der rund 120 Seiten starken Studie.
Die DGB-Gewerkschaften hätten »frühzeitig die überdimensionierten Personalstrukturen und -kapazitäten im FDGB erkannt«. Schon deswegen seien sie nicht geneigt gewesen, eine »gleichwertige Verschmelzung der Apparate« zu vollziehen. Trotzdem wurden die Ostfunktionäre gebraucht – haupt- wie ehrenamtlich –, weil sie sich in ihren Ländern besser auskannten. Für die FDGB-Hauptamtlichen gehörte eine Erklärung, dass sie nicht in der Stasi waren, zum Arbeitsvertrag, und sie konnten sich zudem nur für Wahlämter zur Verfügung stellen. Trotzdem warnte der damalige DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer im September 1990 davor, nur Westfunktionäre in die neuen DGB-Büros zu holen.
Fazit und Fehler
»Die Aufgabe war, als würden die USA heute versuchen, Mexiko als 51. Staat aufzunehmen«, sagte DGB-Vorsitzender Michael Sommer am Mittwoch in seiner Rede, um deutlich zu machen, vor welcher großen Herausforderung die Gewerkschaften 1990 standen – einschließlich der unterschiedlichen Kulturen und Lebenswirklichkeiten. Das westdeutsche Arbeitsrecht habe in den Osten übertragen werden müssen. Er erinnere sich an Situation bei einer Gewerkschaftsveranstaltung: Auf dem Podium saßen »junge Leute vom Hauptpersonalrat der Bundespost aus Bonn, und unten saßen gestandene Menschen mit großer Lebenserfahrung und auch mit einer großen Betriebs- und gewerkschaftlichen Erfahrung und schrieben mit, was die anderen sagten«. Er habe später zu einer Freundin gesagt: »So etwas will ich nicht mehr erleben.« Die Menschen sollten sich eigentlich selbst organisieren, auch mit der Unterstützung, aber nicht, »dass der eine aus dem Westen kommt und predigt, was der andere aus dem Osten zu machen hat«.
Man dürfe nicht vergessen, was den Menschen im Osten mit ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen Erfahrungen, positiv wie negativ, »zugemutet« wurde. Es sei eine »der großen Leistungen«, dass es trotz der »Asymmetrie« gelungen sei, die Einheit zu schaffen. Er kenne allerdings keinen einzigen gesellschaftlichen Bereich, in dem versucht worden sei, diese Asymmetrie in die andere Richtung zu sehen. Vieles musste neu gedacht, erklärt und auch neu legitimiert werden.
Auf die Frage, die ihm dieser Tage in Interviews oft gestellt werde, was denn das Resümee von 20 Jahren DGB im Osten sei, sagte Sommer: »Ich bin stolz, Vorsitzender eines Dachverbandes zu sein, einer Organisation, die es im Unterschied zu vielen anderen Bereichen in diesem Lande geschafft hat, tatsächlich zu einer Organisation zusammenzuwachsen.« Trotzdem seien auch Fehler gemacht worden, stimmte Sommer Doro Zinke zu. Die hatte in ihrer Rede an die ostdeutsche Transportgewerkschaft erinnert, die die erste DDR-Gewerkschaft außerhalb des FDGB war. Darin waren alle Transportarbeiter organisiert, während im Westen der Transport auf verschiedene Gewerkschaften verteilt war. »Das fanden wir richtig toll, nur was war das erste, das wir machen mussten? Wir haben sie gezwungen, sich aufzulösen und auf die westdeutschen Gewerkschaften zu verteilen.« Damals habe sie sich das erste Mal gefragt, ob »das alles so richtig sei«.
Noch immer nicht überall einheitlich
Die Unterschiede sind nach wie vor groß: Die Erwerbslosigkeit im Osten ist durchschnittlich noch immer doppelt so hoch wie im Westen, es gibt unterschiedliche Lebensstile, die Zahl der Pendler ist vier mal so hoch, und die Einkommen sind noch immer nicht angeglichen. Der Einheitsprozess sei eng zusammengefallen mit Finanz- und Wirtschaftskrise, mit 20 Jahren neoliberaler Politik, »und der Osten wurde benutzt, um diese Prozesse zu forcieren«, sagte Kloppich weiter.
Der Transformationsprozess in der Industrie wurde von der Treuhandanstalt durchgeführt. Ihre Aufgabe war es, die volkseigenen Betriebe zu privatisieren oder – wo das nicht möglich war – abzuwickeln. Der Widerstand dagegen war in den ostdeutschen Bundesländern groß.
In Sachsen besetzten Arbeiter Straßen, in Sachsen-Anhalt standen die Forstarbeiter vorm Landtag und haben ihre Kettensägen lärmen lassen, erinnert sich Kloppich. In allen Branchen habe es Kämpfe und Auseinandersetzungen gegeben – teilweise erfolgreich, manches Mal nicht. Die Textilindustrie in Ostdeutschland ist fast vollständig verschwunden, im gesamten Industriebereich gingen tausende Arbeitsplätze verloren. Dass im Osten Niedriglohnsektor, Leiharbeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse weiter verbreitet seien als im Westen, nannte Kloppich »Folgeschäden« der Nachwendejahre, als es nicht gelungen sei, Flächentarifverträge auf breiter Basis zu etablieren.
Das Ziel bleibe, die Angleichung »eins zu eins« zwischen Ost und West zu erreichen, sagte Sommer gegen Ende seiner Rede. Vom DGB werde es deshalb keine Aussage geben wie, »wir verabschieden uns vom Aufbau Ost«.
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