Einem Bergrutsch gleich
Vor 80 Jahren: 107 NSDAP-Abgeordnete ziehen in den Reichstag ein
Mit den Worten »Ein ganz fürchterliches Ergebnis« kommentierte Staatssekretär Hermann Pünder am Abend nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930 das Ergebnis. Seine Äußerung bezog sich auf das Abschneiden der NSDAP. Sie erhielt 6,4 Millionen Stimmen – das waren 18,3 Prozent – und stellte 107 Abgeordnete. Da ist es völlig berechtigt, wenn die Tageszeitungen einen Tag später von einem »Bergrutsch« schrieben. Denn mit zwölf Mandaten und weniger als einer Million Wählerstimmen hatte die NSDAP bis dahin faktisch keine Rolle im Deutschen Reichstag gespielt.
Es ist auch heute noch schwer nachzuvollziehen, wie dieses Ergebnis zustandekam. Zwar erhielt die Partei – wie andere auch – Geldspenden von führenden Industriellen. Doch die meisten Vertreter der deutschen Großindustrie waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht davon überzeugt, dass das Wort »sozialistisch« im Namen der NSDAP rein demagogisch gemeint war und hielten sich zurück. Für die Nazis war es aber relativ leicht, mit ihren Parolen an die reale politische und wirtschaftliche Situation im Land anzuknüpfen. Sie mussten nicht einmal konkrete Vorstellungen entwickeln, wie es anders werden sollte. Wenn sie es taten, war es nebulös genug.
Die Wirtschaftskrise hatte Deutschland fest im Griff. Die allgemeine Not war groß. Die Produktion wurde gedrosselt, Unternehmen gingen pleite. Immer mehr Bauernwirtschaften kamen unter den Hammer. Die Agrarproduktion sank. Um die Preise hochzuhalten, wurden Lebensmittel vernichtet, während die Bevölkerung in den Städten hungerte. Nach der amtlichen Statistik gab es in Deutschland im Januar 1930 3,2 Millionen bei den Arbeitsämtern gemeldete Arbeitslose, von denen 2,5 Millionen Unterstützung bezogen. Während die Löhne der noch in Arbeit Stehenden teilweise sanken, stiegen die Preise für Fleisch, Milch, Brot und Gemüse, dann auch für Kohlen und Textilien, schließlich für Strom, Gas und Wasser.
Während Hitlers 107 Abgeordnete in den Reichstag einzogen, beeilte sich dieser kurze Zeit später in einem Hochverratsprozess gegen drei Reichwehroffiziere als Zeuge unter Eid zu erklären, dass er nicht die Absicht habe, auf gewaltsamem Wege zur Macht zu kommen. Dazu werde er sich legaler Mittel bedienen. An der Zielstellung der Nazis ändert sich dadurch nichts. Sie wollen die parlamentarische Demokratie beseitigen.
Das wollten auch die Kommunisten, die am 14. September 1930 ebenfalls erfolgreich abschnitten, wenn auch nicht so gut wie die NSDAP. Im Unterschied zu den Nazis wollten die Kommunisten aber auch die kapitalistische Gesellschaft überwinden Die KPD erhöhte ihren Stimmenanteil um 1,3 auf 4,5 Millionen und stellte mit 77 Abgeordneten nach SPD, NSDAP, Zentrum und Bayerischer Volkspartei (die ein Bündnis eingangen waren) nunmehr die viertstärkste Fraktion im Reichstag. Die Deutschnationale Volkspartei, die Deutsche Volkspartei und die aus dem Zusammenschluss von Deutscher Demokratischer Partei und Jungdeutschen Orden hervorgegangene Deutsche Staatspartei verloren deutlich.
Die Arbeiterparteien KPD und SPD bekämpften sich gegenseitig. Die Kommunisten warfen der SPD vor, durch ihre Handlungen »fortgesetzten Hoch- und Landesverrat an den Lebensinteressen der arbeitenden Massen Deutschlands« zu betreiben. Die Ziele der KPD sprach ihr Vorsitzender Ernst Thälmann offen aus: »Das Schicksal des Proletariats entscheidet sich nicht in Parlamentswahlen, sondern nur im offenen revolutionären Massenkampf. Nur eine Partei kämpft nicht für Regierungsämter und fette Ministerpensionen. Sie kämpft für den Sturz des bankrotten völkerknechtenden Kapitalismus.« Am 16. September bezeichnete »Die Rote Fahne« den Sieg der KPD als das wichtigste Ergebnis der Reichstagswahl. Das stimmte aber höchstens für Berlin, wo die KPD mit 739 000 Stimmen knapp vor der SPD lag, für die hier 738 000 Wähler votierten. Die NSDAP verzehnfachte in Berlin mit 396 000 Stimmen zwar ihr Ergebnis von 1928, konnte aber auch später hier nie richtig Fuß fassen.
Die SPD verlor bei dieser Wahl 600 000 Wähler, stellte aber mit 143 statt der bisher 153 Abgeordneten weiterhin die stärkste Fraktion. Der sozialdemokratische Reichskanzler Hermann Müller, der an der Spitze einer Großen Koalition stand, war allerdings schon im März 1930 zurückgetreten. Ein Haushaltsdefizit von über 1,5 Milliarden RM – damals eine gewaltige Summe – ließ sich nicht stopfen. An Müllers Stelle trat der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning, der auch nach den Septemberwahlen 1930 wieder die Regierung bildete, ohne über eine parlamentarische Mehrheit zu verfügen. Mit ihm begann die Zeit der Präsidialkabinette, die den Weg für die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie ebneten.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.