Eine Anomalie

Vladimir Sorokin: »23°000«

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit den Romanen »Ljod. Das Eis«, »Bro« und »23°000« liegt Vladimir Sorokins Trilogie über die elitäre Lichtbruderschaft in der kompetenten Übersetzung von Andreas Tretner komplett vor. In Russland kamen die drei Bücher zwischen 2002 und 2005 heraus, nach dem grotesk-parodistischen Politschocker »Der himmelblaue Speck«, dessen tabuloser Umgang mit Stalin, Hitler und Chruschtschow sowie renommierten russischen Autoren wütende Protestaktionen der »patriotischen« Kremljugend gegen Sorokin ausgelöst hatte. Die »Eis«- Trilogie schien neue künstlerische Ansätze zu enthalten, mit der Kritik an den »Fleischmaschinen« und dem Appell für »sprechende Herzen« sogar positive Ideen zu vermitteln. Doch mit dem krassen Wechsel von kosmologisch-metaphysischen Höhenflügen und rüden Gewaltszenen stieß die Trilogie auch auf Unverständnis. Welche Absicht verfolgte Sorokin?

Dem Werk liegen uralte Mythen zugrunde. Schon das erste Buch Mose enthält den Hinweis, dass die Menschen aus Geist und Fleisch bestünden und böse seien, so dass Gott beschlossen habe, sie durch die Sintflut zu vertilgen. Sorokins Lichtkinder vertreten die Ansicht, die Existenz des Menschen sei eine Anomalie im Universum. Bei der Entstehung der Erde, als das Ursprüngliche Licht mit 23°000 Strahlen leuchtete und Sterne, Planeten und Galaxien schuf, sei es zu einem Fehler gekommen. Nur die Erde habe eine Wasseroberfläche erhalten, die wie ein Spiegel wirkte und die Lichtstrahlen in körperliche Wesen verwandelte, aus denen durch die Evolution der Homo sapiens hervorging. Der aber sei zu einer »Fleischmaschine« degeneriert, hätte verlernt, die »Sprache des Herzens« zu sprechen, sogar Waffen gebaut und getötet, was er gebar. Ein kosmischer Eisblock, der Meteorit, der 1908 an der sibirischen Tunguska niederging, habe den 23°000 – alle blond und blauäugig – eine Chance geboten, zum Ursprünglichen Licht zurückzukehren. Zum Wiedererwachen ihrer Herzen seien Schläge mit einem Eishammer auf das Brustbein notwendig. Wer keine »hohle Nuss« sei, besinne sich dabei auf seinen wahren Namen und dürfe sich in den Kreis der Rückkehrwilligen einreihen.

Chronologisch betrachtet, leitet »Bro« den Zyklus ein, stellt den Begründer der Lichtbrüder vor und verfolgt dessen missionarischen Weg von 1908 bis zum Krieg zwischen »Ljodland« und »Ordnungsland«. Von Moskau bis Berlin werden Eishämmer in Massenproduktion hergestellt. Stalin und Hitler treten auf, der Gulag und die KZs, Schauprozesse und der Holocaust dienen der Selektierung von Lichtgestalten. Die Handlung von »Ljod. Das Eis« verläuft größtenteils in Russland, von den Stalinschen »Säuberungen« bis zu den wilden 1990ern unter Jelzin, als die Bruderschaft das Tunguska-Eis als »Wellness-Set« vermarktet. Im dritten Buch kommen neben den barbarischen Aktionen der Lichtgeschwister auch die Erfahrungen ihrer Opfer ins Spiel, jener Blonden und Blauäugigen, die nicht »wach geklopft« werden können, aber die Tortur mit dem Eishammer überleben. Die New Yorker russische Jüdin Olga und der Schwede Björn organisieren Über die Internetseite <www.iceham- mervictims.org> in mehreren Ländern den Widerstand gegen die hämmernden Lichtträger. Die beiden geraten in eine Falle, werden in einem unterirdischen Lager in China als Arbeitssklaven bei der Eishammerproduktion missbraucht. 2005 sollen sie der Bruderschaft beim Verlassen der Erde helfen, als sich die durch zwei Säuglinge vollzähligen 23°000 auf einer Marmorinsel zum letzten Großen Kreis aufstellen. Der Start geht gründlich schief. Die Erde aber wird weiter bestehen.

Die vom Leser erwartete Auseinandersetzung mit totalitären Systemen, elitären Theorien und irrwitzigen Heilsversprechen droht in den Gewaltszenen des Eishammerspektakels unterzugehen. Außerdem liefert Sorokin überraschend einen versöhnlichen Romanschluss, nicht viel anders, als die Bibel das Ende der Sintflut beschreibt. Dort spricht Gott nach dem Untergang des »bösen Fleisches« mit Noah, schließt mit ihm einen Bund und nimmt sich vor, fortan um der Menschen willen nicht mehr die Erde zu bestrafen. Auch Olga und Björn wollen nach der Katastrophe mit Gott sprechen. Dieses evolutionsgeschichtlich rätselhafte Ende des Romanzyklus ist für den rebellischen Provokateur aus dem Kreis der Moskauer Konzeptualisten, aber auch für den einsam und leiser gewordenen Mahner von heute merkwürdig: Die »Fleischmaschinen« leben unangefochten weiter, womit alles beim Alten bleibt. Vielleicht aber ist die »Eis«-Trilogie nur eine thematische und stilistische Anomalie im Schaffen Sorokins, der mit den antiutopischen Grotesken »Der Tag des Opritschniks« und »Der Zuckerkreml« längst einen neuen künstlerischen Ansatz gefunden hat.

Vladimir Sorokin: 23°000. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin Verlag. 332 S., geb., 24 €.

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