Vor dem Gesetz sind alle erwachsen
Pro Asyl und Separated Children fordern, Flüchtlingskinder endlich wie Kinder zu behandeln
Albert Riedelsheimer, Generalsekretär des Vereins Separated Children, schildert die Geschichte von Toni, dessen Vormund er ist. Der 16-jährige Flüchtling gab an, aus Uganda zu kommen und dort wegen seiner Homosexualität bedroht worden zu sein. Weil er nach Ansicht der Dolmetscherin gewisse Buchstaben komisch ausspreche, kam der Verdacht auf, er lüge. Der Zuständige beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge behauptete, Orte, die Toni nachweislich richtig beschrieb, existierten nicht. Er wisse zu wenig über sein Herkunftsland, hieß es, obwohl er Riedelsheimer zufolge etwa 90 Prozent der Fragen richtig beantwortete. Dem Jungen wurde unterstellt, tatsächlich aus Nigeria zu stammen und seine Geschichte ausgedacht zu haben, obwohl ihm dies keinerlei Vorteil brächte. Schließlich wurde der Asylantrag des Jugendlichen abgelehnt.
»Der Minderjährige wurde im Verfahren wie ein Erwachsener behandelt«, fasst Riedelsheimer zusammen. Er wurde ohne Vormund angehört, von Beamten ohne spezielle Ausbildung im Umgang mit Kindern. Man »verteilte« ihn von Stadt zu Stadt und steckte ihn in eine überfüllte Flüchtlingsunterkunft. Seine persönliche Geschichte, ob er körperlich gesund ist oder traumatisiert sein könnte, interessierte niemanden.
Bis zum Frühjahr behielt sich die Bundesrepublik vor, minderjährige Flüchtlinge vor allem als Ausländer, nicht als Kinder zu behandeln. Dann nahm sie die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention nach 18 Jahren offiziell zurück. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sprach von einem »klaren Signal, dass dem Kindeswohl Vorrang gebührt«. Doch geändert hat sich seither nichts.
Anlässlich des Weltkindertages am 20. September forderten Heiko Kauffmann, Vorstandsmitglied von Pro Asyl, und Riedelsheimer gestern die Bundesregierung auf, endlich gesetzliche Konsequenzen zu ziehen. Die Verfahrensmündigkeit ab 16 Jahren, die willkürliche Altersschätzung durch teilweise entwürdigende Methoden müssten untersagt, diverse Gesetze geändert werden. Die Flüchtlingsorganisationen verlangten kindgerechte Verfahren, Bildung und eine bessere medizinische Versorgung für die Jugendlichen.
Mit dem gleichzeitig vorgestellten Buch »Kindeswohl oder Ausgrenzung? Flüchtlingskinder in Deutschland nach der Rücknahme der Vorbehalte« wolle man auch die Öffentlichkeit am Diskurs beteiligen, sagte Kauffmann. Das erste Exemplar überreichte er im Haus der Demokratie und Menschenrechte symbolisch an Tom Koenigs (Grüne), den Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.
Der Migrationsforscher Klaus Bade nannte die Rücknahme der Vorbehalte »einen Formelkompromiss, der das Papier nicht wert zu sein scheint, auf dem er gedruckt wurde«. Von »einer schier unendlichen Geschichte politischen Versagens und nicht eingelöster Versprechen« sprach Kauffmann mit Blick auf die Rechte von Flüchtlingskindern. Und die sei noch längst nicht beendet.
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