Leidenschaft in Aussicht gestellt
In Berlin hielt die SPD einen Parteitag auf rohem Beton ab
Bis 1997 herrschte hier in der »Station« in Berlin-Kreuzberg die Betriebsamkeit eines Postbahnhofes. Das Ende kam, ein Jahr bevor die SPD 1998 die Regierungsmacht ergriff. Wo einst Millionen und Abermillionen Pakete und Briefe umgeschlagen wurden, herrscht seither dunkles Schweigen, von Ausstellungen unterbrochen.
An diesem Wochenende herrscht eine fremd wirkende Betriebsamkeit. Die SPD ist wie das fahrende Volk über die strengen, schweißgetränkten Hallen gekommen. Sie hat sie mit Ständen und Plakaten gefüllt, mit Licht und Stimmengewirr. Die dunklen, kabelverschnürten Wände tragen Pappkulissen in frohen Farben mit Verheißungen einer fernen Welt. »Gut und sicher leben«. »Arbeit, Innovation, Umwelt«. »Fair ist für mich, sich einzusetzen für soziale Gerechtigkeit hier und weltweit.« Die Stuhlreihen stehen nur für die eine Vorstellung hier, aufreizend scharren sie bei jeder Bewegung auf dem rohen Beton.
In einer Nachbarhalle haben sich weitere Schausteller niedergelassen. Stiftungen, Verbände und Ortsvereine bilden mit ihren Requisiten ein eigenes Dorf der Zuversicht. Weit hinten die Genossen von Sollstedt-Wülfingerode und Bad König-Kimbach an ihrem Stand. Die Vertreter beider Ortsvereine aus Thüringen und Hessen sind als harmonisches Beispiel der vor 20 Jahren vereinten Ost- und Westpartei nach Berlin gebeten worden. Bernhard Schunke gerät in frohe Unruhe, als sich Hans-Jochen Vogel nähert. Der einstige SPD-Vorsitzende lässt sich zu einem Fitzelchen Thüringer Wurst einladen und spült ergeben mit einem rot leuchtenden Likör nach. Schunke hat die Gelegenheit beherzt für ein paar Fotos genutzt und sieht ihm jetzt glücklich hinterdrein. »Du kommst nicht los«, beschreibt er sein Verhältnis zur Sozialdemokratie. Auch in Sollstedt-Wülfingerode haben ihr die Leute den Rücken gekehrt. Man muss über seinen Schatten springen können, sagt er, und korrigieren, wenn man etwas falsch gemacht hat.
So ähnlich sagen es viele Delegierte des Parteitages. Etwas falsch gemacht zu haben, sagen nicht ganz so deutlich Andrea Nahles und Sigmar Gabriel, Generalsekretärin und Vorsitzender der SPD – Hoffnungsduo der Partei seit dem Parteitag von Dresden vor zehn Monaten. Obwohl sie gern starke Worte benutzen und obwohl sie den Eindruck erwecken, dass sie genau das soeben tun – korrigieren, was in elf Jahren Regierungszeit der SPD falsch gelaufen ist. Doch wenn sie reden, klingt es, als hätten sie mit den Ursachen der Misere nichts zu tun, die sie beklagen. Und das ist das Rezept. Korrektur ohne Selbstkritik. Die Delegierten haben mehrheitlich offenbar nichts dagegen, es ist der bequemere Weg auch für sie. Es findet sich keiner an der Spitze der Partei, der sich von der Regierungszeit Gerhard Schröders, von den Beschlüssen der rot-grünen Bundesregierung zum Arbeitsmarkt, der heute im Mittelpunkt der Diskussion steht, distanzieren würde. Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister von Berlin und damals einer der wenigen Kritiker Schröders, bekennt vor einer Kamera, dass er stolz auf diesen ist.
In einem Beschluss vor vier Wochen hatte der Parteivorstand die strengen Worte eines Leitantrages beschlossen, in dem die Regierungszeit der SPD zwar immer noch als Erfolg bezeichnet wurde, aber in einzelnen Bewertungen die Kritik unverhohlen schimmerte. Die Reformen seien »eindimensional« auf »Aktivierung« der Arbeitnehmer« ausgerichtet gewesen und stünden deshalb »mit den Gerechtigkeits- und Moralvorstellungen unserer Arbeitskultur nicht in Einklang«. Im Leitantrag, den der Parteitag beschließt, ist diese deutliche Form der Kritik nicht mehr zu lesen. Die Abkehr von bisherigen Positionen ist verborgen in einer wohlgeordneten Einbettung in Krisenbeschreibungen und internationale Zusammenhänge.
Umstrittene Themen wie die Rente mit 67 sind nicht Thema des Leitantrages, sondern wurden ausgelagert. Die Rente kommt trotzdem vor. Andrea Nahles geniert sich nicht, das Argument der Linkspartei wörtlich zu wiederholen: solange nur 20 Prozent der über 60-Jährigen im Arbeitsprozess stehen, ist die Rente mit 67 nichts als eine Rentenkürzung. Und sie ergänzt: »Sauerei!«. Gabriel sagt, dass es nicht um eine Abschaffung der Rente mit 67 geht. Zustimmung und Ablehnung hielten sich deshalb in der Gesellschaft die Waage, weil es so unterschiedliche Lebenserfahrungen gebe. Im Gesetz sei geschrieben, dass 2010 geprüft werden soll, ob die Bedingungen für eine Einführung des späteren Renteneintrittsalters gegeben sind. Derzeit seien diese nicht gegeben.
Der Parteitag soll die »programmatische Weiterentwicklung« der SPD bis zum Jahr 2013 voranbringen, wie es heißt. »Wir sind mittendrin in der Erneuerung unserer Partei«, sagt Andrea Nahles in ihrer Rede. Und Sigmar Gabriel definiert, dass die SPD Partei der sozialen Gerechtigkeit sein und bleiben müsse. Es gehe nicht um die Lufthoheit über den Reichstag, sondern um Millionen Arbeitnehmer, die von ihrer Arbeit leben wollen. »Dafür ist die SPD da, dafür kämpfen wir.«
Es ist die Welt der Arbeit, die die SPD besingt. Dort stammt sie her, mit den Hartz-IV-Gesetzen hat sie gerade in der Arbeitswelt für Zerrüttungen und Enttäuschung gesorgt. Zehn Millionen Wähler sind der SPD seit 1998 abhanden gekommen. In diesem Postbahnhof, diesem Grab der Arbeit, soll der Neubeginn gelingen. Leidenschaft hat Andrea Nahles am Sonnabend, dem Tag vor dem Beginn des eigentlichen Ereignisses, in Aussicht gestellt. Wie auf dem Parteitag von Dresden vor einem knappen Jahr, nach dem Absturz bei der Bundestagswahl, hängt das verbliebene SPD-Volk nun seinem neuen Vorsitzenden an den Lippen. Genau weiß niemand hier, wo die Gleise für die Postwaggons eigentlich gelegen haben. Zu welchen Bedingungen die Leute arbeiteten. Während Gabriel die Partei beschwört, Partei zu ergreifen, sie vor den Folgen warnt, wenn viele Menschen sie inzwischen als »die da oben« definieren, die mit ihnen, denen »da unten«, nichts zu tun habe, weiß Bernhard Schunke, dass das gar nicht das Problem der Partei ist. Er weiß genau, wie es »denen da unten« geht, er selbst verdient als Angestellter in einer Metallfirma so viel, dass es für den Weg zur Arbeit reicht, wie er sagt. Seine Frau bezog bis vor kurzem, bis sie in Rente ging, Hartz IV. Schunke weiß, dass die Abgehobenheit der SPD gegenüber dem realen Leben ihrer Klientel kein Problem der Partei ist, sondern ein Problem ihrer Führung. Es könne nicht angehen, ruft Gabriel, dass der Staat mit elf Milliarden Euro die Niedriglöhne subventioniert. Später wird Peer Steinbrück, einer der drei Sozialdemokraten neben Frank-Walter Steinmeier und Olaf Scholz, denen er gesondert für ihre Arbeit in der Großen Koalition dankt, den Einführungsvortrag zum Leitantrag Wirtschaft und Finanzen halten.
Auch am Wähler prallten bisher alle Annäherungsversuche ab, alle Beteuerungen, dass man aus Fehlern gelernt habe. Sehr laut weist Nahles heute auf die ZDF-Sonntagsfrage von letzter Woche hin. 30 Prozent wies das Politbarometer für den Fall einer Bundestagswahl der SPD zu. Ist er das endlich, der Umschwung? Das ist er, so Nahles. Und Gabriel rechnet mit der Linkspartei ab. Diese sei dabei, sich überflüssig zu machen, weil sie nicht politikfähig sei. »Nicht wir müssen uns ändern!«
Schunke hat sich schon immer gefragt, wie Hans-Jochen Vogel seine inhaltlichen Differenzen mit seinem Bruder Bernhard Vogel, einst CDU-Ministerpräsident in Thüringen, aushält. Doch Vogel habe ihm gesagt, im Prinzip könnten sich beide immer auf eine gemeinsame Linie einigen. Schunke versteht nicht, wieso die SPD größere Probleme mit der Linkspartei hat als mit der CDU. »Das kann doch irgendwie nicht sein.«
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