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- ZEITungs-SCHAU 1990
Die Miss und die Macher
Kurz vor der Einheit wurde in Schwerin die schönste DDR-Bürgerin gewählt. Eine Spurensuche
Gegenüber der Wand, an der die Bühne stand, ist die Feuerwehr vorgefahren. Ein großes gelb-rotes Springpolster steht bereit, es sieht so aus, als würden die zwei Kindergestalten im Fenster darüber gleich hinunterspringen. Große Feuerwehrautos überall, und dort, wo es im Herbst 1990 zu den Garderoben ging, fällt der Blick auf ein gespenstisches Arsenal an Atemschutzmasken aus aller Welt. Selbst für Pferde ist etwas dabei.
»Feuerwehrmuseum« steht heute an der alten DDR-Mehrzweckhalle am Schweriner Fernsehturm, und von dem riesigen rot-weißen Schild abgesehen wirkt der Flachbau ziemlich verschlissen. Am 21. September 1990 hatten hier acht Fernsehstationen und mehr als 100 Journalisten aus mehreren Ländern Posten bezogen. An jenem Abend fand in der Kultur- und Sporthalle die erste, tatsächlich landesweit angelegte Kür einer »Miss DDR« statt. Es war auch die letzte, wie die Veranstalter betonen. Zwar gab es bis zum Beitritt am 3. Oktober noch Nachahmer, doch wirklich überregional sei nur die Wahl in Schwerin gewesen.
Schräg gegenüber der Halle steht noch immer ein überlebensgroßer Lenin. Wenn man so will, sind Zustandekommen und Erfolg jener Miss-Wahl eine ironische Bestätigung für Lenins Wort von der Macht der (Partei-)Presse als »kollektiver Organisator«. Andererseits lief das Ganze längst nach West-Regeln ab. Doch davon – und wie relativ so ein Event-Erfolg sein kann – später. Denn spricht man mit den wichtigsten Akteuren, stellt sich heraus, dass ihr persönliches Hoch nach der Wahl von sehr unterschiedlicher Dauer war.
Der Andrang am Schweriner Fernsehturm hatte natürlich viel zu tun mit der Vorgeschichte von Schönheitswettbewerben in der DDR, sagt Jochen Brandau, damals Pressefest-Chef beim SED-Bezirksorgan »Schweriner Volkszeitung« (SVZ). Brandau, heute Anfang 60, ist einer der Väter jener Miss-Wahl am Schweriner Fernsehturm: »Es gab eine große Neugier. Völlig klar, über lange Jahre war sowas ja undenkbar in der DDR.«
Von Beginn an wurden westliche Schönheitswettbewerbe in Medien, Film und Theater der DDR karikiert und angeprangert – die tatsächlichen Skandale der Branche, die mit ihren konkurrierenden Unternehmen immer undurchsichtiger wurde, gaben reichlich Anlass. Als dann im Gefolge der 68er auch im Westen die zunehmende Tendenz zur Fleischbeschau in einem Teil der Wettbewerbe kritisiert wurde – bei der Miss-Wahl 1973 skandierten aufgebrachte Frauen: »Ihr verkauft unser Knie wie die Bauern ein Stück Vieh!« – wurden diese Stimmen gern zitiert. Als Zeugenaussagen für die Fäulnis des sterbenden Kapitalismus sozusagen.
Erst in den letzten DDR-Jahren, erinnert sich Brandau, änderte sich die Haltung. Hatte es bis dahin allenfalls in kleinem Rahmen, etwa in Wohnheimen, Schönheitswettbewerbe gegeben, fand im Frühjahr 1986 in einer Gaststätte in Berlin-Marzahn die erste öffentliche Miss-Wahl in der DDR statt. In der Jury saßen Publikumslieblinge wie Helga Hahnemann und Frank Schöbel. Gewählt wurde eine Miss Frühling, Talent- und Showeinlagen umrahmten die Kür. Heute wird die Veranstaltung in der »Feuerwache« nicht selten zum Akt des Widerstandes gemacht, stets unter Hinweis auf die Beobachtung durch argwöhnische DDR-Behörden. Tatsächlich aber gab es bald mehrere örtliche Schönheitswettbewerbe, und spätestens zur Berliner 750-Jahr-Feier 1987 war klar, dass dies kein Zufall war: Beim großen Festumzug fuhr neben barbusigen Strandnixen auch eine »Miss Berlin« an Erich Honecker vorbei, die DDR-Medien berichteten. Offenbar hatte die Führung ihre frühere Bewertung über Bord geworfen und versuchte, mit regionalen Miss-Wahlen in den Farben der DDR Punkte zu machen.
Auch der umtriebige Brandau organisierte damals zum SVZ-Pressefest die erste Misswahl in Schwerin. Anderthalb Jahre später war die Grenze offen, und bald tauchte ein Herr aus Oldenburg bei Brandau auf: Horst Klemmer, Chef der Miss Germany Corporation (MGC), im Gefolge seine amtierende Titelträgerin. Die MGC war damals noch nicht der Branchenprimus von heute, aber Klemmer hatte schneller als andere die Bedeutung des neuen Marktes erkannt.
»Ich wollte unbedingt eine richtige Miss-DDR-Wahl auf die Beine stellen, solange das noch ging«, sagt Klemmer, heute Anfang 70 und MGC-Seniorchef. »Wir sind die Bezirksstädte abgefahren und haben mit den Zeitungen dort verhandelt, damit sie Teilnahmeaufrufe abdruckten. Es sollte nach unserem üblichen Standard laufen, allerdings war wenig Zeit.«
Ein Platz in der Alterspsychiatrie
»Allein die SVZ hatte eine Auflage von 188 000, da bekam man im Westen feuchte Augen«, erinnert sich Brandau. Dass sich nun die MGC den Hut aufsetzen wollte, schmeckte ihm zunächst nicht. »Aber ich hatte auch keine Ahnung, welchen Umfang die Sache annehmen würde.« Schließlich übernahm Brandau für MGC und SVZ die Organisation in Schwerin.
DDR-weit meldeten sich mehr als 3500 Mädchen. Eine von ihnen war Leticia Koffke aus Brandenburg an der Havel, damals 19 Jahre alt. Eine Tante hatte die MGC-Anzeige in der Potsdamer Märkischen Volksstimme gelesen und ihr den Tipp gegeben. Mit zwei Freundinnen zog sie los, erst zur Stadt-Wahl, im Frühsommer wurde sie Vize-Miss des Landes Brandenburg.
»Es waren Abenteuerlust, Neugier und die Aussicht auf die Siegprämie«, sagt Leticia Koffke heute. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen, die Mutter Krippenerzieherin, der Vater Koch, chronisch krank. »Die familiäre Situation war oft schwierig.« Insgesamt aber habe sie ihre Kindheit in der DDR in guter Erinnerung, vieles sei gut geregelt gewesen. »Nach der Schulzeit hat man jedoch immer mehr von den Macken des Systems mitbekommen, von der Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit, auch von der politischen Überwachung.« Ihr Wunschberuf war Krankenschwester, sie wollte helfen, Menschen gesund zu machen. Nach Ausbildungsbeginn wurde allerdings bald klar, dass man sie für die nächsten Jahre in der Alterspsychiatrie einsetzen würde. »So hatte ich mir das nicht vorgestellt.«
»Wir wurden damals im Osten mit offenen Armen empfangen«, erinnert sich Klemmer. »Unter den Zuschriften haben wir eine Bildauswahl getroffen, dann gab es erste Ausscheide. Die Ausstattung brachten wir mit – Kleider, Schuhe, Badeanzüge. Die jungen Damen waren sehr diszipliniert – ich kann da nur viel Positives sagen.« Klemmer gilt als der Seriöse in der Branche, als Mann der alten Schule. »Körpermaße haben im Wettbewerb keine Rolle gespielt,« sagt Leticia Koffke. »Überhaupt war die ganze Atmosphäre sehr korrekt.« Irgendwann im Frühsommer 1990 dann stand die Entscheidung an, wo die Wahl der Miss DDR stattfinden sollte. Geladen waren 15 Mädchen, die drei Erstplatzierten aus jedem der entstehenden fünf neuen Länder. Die Zeit drängte, denn in Sachen Einheit lief alles viel schneller als anfangs gedacht.
In Schwerin hatte Brandau die Wahl der Miss Mecklenburg-Vorpommern ähnlich wie den beliebten Pressefest-»Frühschoppen« vorbereitet, das SVZ-Pressefest selbst gab es schon nicht mehr. »13 000 Menschen kamen zur Freilichtbühne«, erzählt Brandau, »der Klemmer bekam den Mund nicht zu. Das war eine Riesenpromotion auch für MGC.« Der MGC-Chef entschied sich prompt für Schwerin als Austragungsort der Miss-DDR-Wahl, die SVZ wurde Mitveranstalter. »Im beginnenden regionalen Konkurrenzkampf der Zeitungen war das ganz wichtig«, erklärt Brandau. »Das sahen auch die anderen so. Ein Blatt schrieb bissig: Der Mann, der früher die Subkultur der SED organisiert hat, organisiert jetzt kapitalistische Miss-Wahlen.« Schwierigkeiten habe es in Schwerin nicht gegeben, sagt Klemmer: »Der Brandau kannte ja alle wichtigen Leute.«
Klemmer fuhr mit seinem ganzen Team nach Schwerin, in der Halle am Fernsehturm entstand eine Bühne mit New-York-Skyline, tagelang probte ein Choreograf mit den Teilnehmerinnen, es gab PR-Termine. Leticia Koffke hatte inzwischen ihren Berufsabschluss gemacht. »Wenn man in der DDR geprägt war, hat einen manches schon etwas befremdet«, erinnert sie sich an die Tage in Schwerin.
Die Jury wurde von Klemmer zusammengestellt: »Da braucht man Prominente sowie Leute mit ein bisschen Ahnung von Gesichtern, aus der Modebranche zum Beispiel. Und in diesem Fall eben aus Ost und West.« Erina Prinzessin von Sachsen und Frank Schöbel gehörten zu den Juroren, auch die Schauspielerin Grit Boettcher (Brandau: »Die hat bei der Wahl vor Rührung geweint.«). Moderator wurde der ZDF-Sportreporter Rolf Töpperwien.
Dann kam der große Abend, von dem das ND damals schrieb: »Der Eindruck, es eher mit gleichförmig lächelnden Stereotypen im Dallas-Stil zu tun zu haben ..., ließ sich nicht von der Hand weisen.« Persönlichkeit sei nicht gefragt gewesen, »seichten Gesprächen folgten Gymnastikinszenierungen in gesponserten Jogginganzügen ... Von anderen Miss-Wahlen bekannte Straps-Bilder blieben den Zuschauern erspart. Aber auch beim einsamen Gang in fast züchtigen Badeanzügen dürften sich die Miss-Anwärterinnen recht nackt gefühlt haben. Schweißnasse Hände, schlotternde Knie und nervöses Zucken um die Mundwinkel jedenfalls zeigten, dass die Schweriner Stunden der reine Stress waren.«
Diese Beobachtungen, sagt Leticia Koffke, seien durchaus richtig gewesen. »Es ging ja um eine Misswahl und somit vorwiegend um Äußerlichkeiten. Aber zu allem ließe sich auch ein anderer, ein positiver Blickwinkel finden. Welche 16- bis 24-jährige junge Frau schafft es, vor 1000 Zuschauern in zwei Minuten Individualität zu beweisen?« Kurz vor Mitternacht dann stand die Entscheidung der Jury fest: Die Miss-Krone und das Siegerauto, ein schwarzer Mini Cooper, gehen an Leticia Koffke. Mit ihr hatte der Typ Barbie gewonnen, wie Brandaus SVZ am Tag darauf bemerkte.
Heute käme niemand auf diesen Vergleich. Leticia Koffke wirkt fraulich und mädchenhaft zugleich, das lange, einst blonde Haar nun mahagonifarben, eine charmante Frau mit natürlicher Ausstrahlung. »Mit der Miss-Wahl hat sich mein Leben völlig verändert, in der Klinik bin ich nicht mehr gewesen«, sagt sie. Sie ging auf Klemmers Angebot ein, trat im Dezember auch zur ersten MGC-Wahl der Miss-Germany nach der Einheit an – und gewann erneut. Es folgten viele Miss-Termine, danach einige Jahre als Model, doch irgendwann verlor sich die Begeisterung.
Irrtümer und ein Sieg auf der ganzen Linie
»Es kam mir alles plötzlich so unwichtig vor, dieses Gehabe und Getue. Es war mir zu wenig, mich nur als Kleiderständer zu präsentieren«, erinnert sie sich. »Das ist ein Riesengeschäft, und bei den Mädchen werden Erwartungen geweckt, die nur für die wenigsten in Erfüllung gehen.« Gemeinsam mit ihrem Ehemann versuchte sie in Berlin eine eigene Modekollektion aufzubauen, doch der Erfolg blieb aus, auch die Ehe ging schief.
Leticia Koffke ließ noch einmal alles hinter sich. Sie bewarb sich bei der Schmuckkette Christ, arbeitete sich hoch, führte Filialen in mehreren Städten, will Bereichsleiterin werden. Was die Chancengleichheit von Frauen betrifft, war die DDR viel weiter, sagt sie. Derzeit lebt sie mit ihrer 13-jährigen Tochter in Köln. Wie es ihr ohne den Miss-Titel ergangen wäre? »In der Landesklinik wäre ich nicht geblieben. Vielleicht wäre ich Journalistin geworden. Ich habe mich immer für Menschen interessiert, und in Deutsch hatte ich stets eine Eins.«
Für Horst Klemmer und seine Firma war die Miss-DDR-Wahl der entscheidende Schritt zur heutigen Marktführerschaft. 1999 gelang es ihm, den Titel »Miss Germany« beim Europäischen Markenamt für MGC als Marke eintragen zu lassen. Andere Veranstalter müssen deshalb seit dem Jahr 2000 auf andere Titel ausweichen – ein Sieg auf der ganzen Linie.
Jochen Brandau wurde zunächst Werbeleiter der SVZ. Er schwärmt noch immer von der Zusammenarbeit mit Klemmer. »Die Miss-Wahl war für mich der Versuch, die Sympathiewerte für die Zeitung zu steigern. Und der Versuch im Überlebenskampf, der nach der Wende einsetzte, ein Stück weiterzukommen. Dass Letzteres ein Irrtum war, weiß man 20 Jahre später natürlich.« Nach einem Eigentümerwechsel bei der SVZ verlor er den Job, der Posten wurde eingespart. Brandau versuchte dieses und jenes. Heute bezieht er Hartz IV.
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