Ein undeutscher Wald
Der älteste Nationalpark der Bundesrepublik wird vierzig Jahre alt. Eine Erfolgsgeschichte mit Konfliktpotenzial
Wer als Deutscher zugäbe, noch nie in einem richtigen Wald gewesen zu sein, würde vermutlich ziemlich schräge Blicke ernten. Dabei trifft das auf fast alle Bundesbürger zu – bloß wissen sie es nicht und würden es weit von sich weisen. Schließlich gehen viele von ihnen gerne spazieren – und das am liebsten unter grünen Wipfeln.
Doch alle, die sich für erfahrene Waldwanderer halten, sollten einmal in den Bayerischen Wald fahren und Deutschlands ältesten Nationalpark besuchen. Dort stünden sie wirklich im Wald, die meisten von ihnen erstmals im Leben. Und schon nach wenigen Minuten sähen sie das auch ein.
Keine Fichten-Spaliere
Denn in diesem Wald, der eben kein Forst mehr ist wie fast überall sonst in Deutschland, darf die Natur es richten, wie sie will. »Wald lehrt uns, dass Monotonie den Geist verdüstert und das Leben gefährdet«, steht auf einer Holztafel am Einstieg des »Seelensteiges«, den man mit dem Igel-Bus von Spiegelau aus erreicht. Über Bohlen führt der Steig 1300 Meter weit durch einen aufkommenden Naturwald, wie man ihn sonst kaum irgendwo in Deutschland findet.
Mehrfach überklettern kleine Holzbrücken respektvoll einzelne, von allerlei Moosen, Flechten und Pilzen besiedelte Tannen- und Fichtenstämme, die nach 1983 von Stürmen umgestürzt oder von Borkenkäfern zugrunde gerichtet worden sind: Das so genannte Totholz, ein Leckerbissen für Hunderte von oft selten gewordenen Käfern, war nun mal zuerst da.
Doch längst recken sich neben verbliebenen Altbäumen wieder junge Weißtannen, Rotbuchen und Fichten in die Höhe, dazwischen vereinzelt auch Bergahorne und Ebereschen, Hängebirken und Salweiden – mit einem Wort: ein gesunder Bergmischwald im Pionierstadium. Und dazu mancher Baumgreis, wie jene vor wenigen Jahren abgestorbene Fichte, die ihre ersten Nadeln vor 350 Jahren aufspannte. Die Nationalpark-Verwaltung nennt den 855 bis 890 Meter hoch gelegenen Seelensteig treffend ein »Zukunftsfenster in die natürliche Waldentwicklung«: Hier wird klar, wie Wildnis aus zweiter Hand aussieht, die den Namen Wald wirklich verdient hat – anders als die altersgleichen, in Reihe stehenden Fichten-Spaliere, die vielerorts in Deutschland Natur bloß vortäuschen. »Der Seelensteig ist ideal geeignet, um auf kurzer Strecke die Nationalpark-Philosophie zu begreifen: Natur Natur sein lassen«, sagt der gelernte Förster Rainer Pöhlmann, der seit 35 Jahren für den Park arbeitet, seit längerem als Pressesprecher.
Inzwischen, nach seiner Beinahe-Verdopplung 1997, ist der Nationalpark Bayerischer Wald gut 242 Quadratkilometer groß. Im alten Teil des Parks, rings um die 1373 beziehungsweise 1443 Meter hohen Berge Lusen und Rachel, sind schon seit 1971 jene 75 Prozent der Fläche der Natur überlassen, welche die Weltnaturschutzunion IUCN für einen international anerkannten Nationalpark spätestens 30 Jahre nach seiner Eröffnung fordert; insgesamt hält sich der holzende Mensch inzwischen auf etwas mehr als der Hälfte des Parkgebiets zurück.
Dass viele der Einheimischen im Umfeld des Parks dieses Heraushalten und Nichtstun nicht nur skeptisch betrachtet haben und teils noch immer betrachten, dass sie den Verzicht auf Eingriffe zeitweise sogar mit zweifelhaften Mitteln bekämpften, hat sich weit über den Bayerischen Wald hinaus herumgesprochen.
Stolz der Einheimischen
Im Zentrum des Streits: der Große achtzähnige Fichtenborkenkäfer. Vor allem in den Höhenlagen des Parks, etwa auf dem Lusen, haben schon vor Jahrzehnten Heerscharen der vier bis fünf Millimeter großen Holzbohrer Fichtenforste zerstört, von denen so mancher Wäldler gelebt hatte. Und nun – so hieß es nach 1971 – sollte dieser Schädling nicht einmal mehr bekämpft werden? Außer in einem etwa 500 Meter breiten Saum zu den umliegenden privaten Nutzwäldern? Die Proteste wogten.
Doch inzwischen haben sich die Menschen – zumindest jene im älteren, südlichen Teil des Parks – mit dem Schutzgebiet und dessen Zielen arrangiert. Erst recht gilt das für den Wald am Seelensteig, der die Windwurf- und Borkenkäfer-Opfer unter den Bäumen in Seelenruhe überwuchert hat: »Die Einheimischen, die früher gegen das Liegenlassen der von Stürmen umgerissenen Bäume waren, sind heute stolz auf den aufkommenden Wald und schicken ihre Gäste extra hierher«, merkt Rainer Pöhlmann erfreut an. Kein Wunder, dass ihn das freut. Es war harte Arbeit.
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