Auslese für das Leben?
Urteil über Gendiagnostik verlangt nach gesetzlicher Regelung
Richter erläutern ihre Urteile in der Regel nur einmal – in der Urteilsbegründung. Beim Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 6. Juli des Jahres gab es eine Ausnahme. Einer der Richter, Prof. Dr. Peter König, versuchte auf einer öffentlichen Abendveranstaltung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) zu erklären, was die Richter tatsächlich entschieden haben und was nicht.
Doch rufen wir uns erst noch einmal in Erinnerung, worum es bei dem Urteil ging. Vor 20 Jahren trat in Deutschland nach langer Debatte das Embryonenschutzgesetz (ESchG) in Kraft. Ziel des Gesetzgebers war dabei, im Sinne eines früheren Verfassungsgerichtsurteils zur Abtreibung, menschliche Embryonen vor der Zerstörung zu bewahren. Das Bundesverfassungsgericht nämlich sah den Beginn jenes Rechtssubjekts, dem die im Grundgesetz verbürgte Menschenwürde zukommt, im Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Und die Embryonen im Frühzustand waren damals gerade interessant geworden, weil man in ihnen sogenannte pluripotente Stammzellen fand, Zellen also, aus denen sich praktisch jedes Körpergewebe entwickeln kann. Die Erzeugung und Zerstörung von Embryonen zu Forschungszwecken sollte das Embryonenschutzgesetz deshalb unterbinden.
Mitte der 90er Jahre kam allerdings eine weitere biomedizinische Neuerung, die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID) auf. Die sollte es ermöglichen, nach einer künstlichen Befruchtung nur diejenigen Embryonen in die Gebärmutter einzupflanzen, bei denen die größte Wahrscheinlichkeit der Geburt eines gesunden Kindes besteht. Der Haken: weniger Erfolg versprechende Embryonen werden vernichtet. Die frühere grüne Gesundheitsministerin Andrea Fischer erinnerte bei der BBAW-Veranstaltung daran, dass deshalb lange Jahre die Rechtsauffassung überwog, das ESchG würde automatisch auch die PID verbieten. Ein Richtlinienentwurf der Bundesärztekammer wurde deshalb im Jahre 2000 schnell wieder beerdigt. Bis auf gelegentliche Vorstöße von Medizinern blieb es dabei. Bis im Jahre 2005 bei drei Paaren, deren bisherige Schwangerschaften wegen genetischer Defekte überwiegend mit Totgeburten bzw vorzeitigem Abgang des Fötus endeten, einen Berliner Frauenarzt aufsuchten. Der künstlichen Befruchtung erzeugten Embryonen auf die bei den früheren erfolglosen Schwangerschaften ursächlichen Defekte untersuchte und nur solche ohne den Defekt einpflanzte. Um künftig Rechtssicherheit in dieser Frage zu erlangen, zeigte er sich selbst an. Der Instanzenweg endete vor dem BGH mit einem Freispruch.
Doch Richter König sieht darin keineswegs eine generelle Legalisierung der PID. Ganz im Gegenteil: Die überraschende Botschaft des Urteils lautet im Gegenteil, PID war in solchen Fällen nie illegal. Denn die Absicht bei PID, so König, sei in jedem Falle eine erfolgreiche Schwangerschaft und nicht die Vernichtung oder anderweitige Nutzung von Embryonen. Und das Gendiagnostikgesetz von 2006 ebenso wie die sozial-medizinische Indikation für eine Abtreibung zeige, dass der Gesetzgeber eine Auslese von Föten nicht ausschließt.
Die inzwischen aufgeflammte Debatte in der Politik belegt allerdings, dass diese Sicht nicht Konsens ist. Die Empfehlungen von Andrea Fischer und Richter König allerdings trafen sich am Montagabend in einem zentralen Punkt: Der Bundestag sollte sich endlich daran machen, ein Fortpflanzungsmedizingesetz zu schaffen, das all diese Streitpunkte regelt und schneller an neue medizinische Herausforderungen angepasst werden könnte. So könnte man bei dieser Gelegenheit gleich noch die Konsequenzen aus dem gegen Österreich ergangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Eizellspende ziehen. Allerdings bezweifelte Fischer, dass es zu einer umfassenden Regelung kommt. Der Riss geht in diesem Falle durch fast alle Fraktionen. Es drohe also ein langer Streit und es verspreche wenig Ruhm, wenn es dann endlich zu einem Gesetz käme. Bei soviel Kontorverse blieb der leise Einwurf von Jens Reich, derart existenzielle intime Fragen sollten betroffene Paare selbst entscheiden können, weitgehend ungehört.
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