Vom Bahnhofsprotest zum Diskussionsmarathon
Sachliche Fragestellungen, unüberbrückbare Gegensätze: Die Schlichtung zu Stuttgart 21 hat begonnen und wird live übertragen
Gegen 14.50 Uhr geht es um Minuten. Ob es nämlich vier oder sechs Minuten dauert, bis ein ICE im Stuttgarter Kopfbahnhof die Richtung gewechselt und den Bahnhof wieder verlassen hat. Und darum, dass der durchschnittliche Halt der Schnellzüge der Deutschen Bahn in einem urbanen Durchgangsbahnhof wie Berlin im Vergleich dazu doch nur zwei Minuten dauere. Umstritten ist auch, ob die bei Stuttgart 21 anvisierte Haltezeit im Nahverkehr von nur einer Minute denn überhaupt wünschenswert sei. Ist sie nicht, meint irgendwann der Schlichter Heiner Geißler lakonisch: »Da kommen die Leute doch gar nicht mit.«
Ein kleines Schmunzeln macht sich in dem Saal im Stuttgarter Rathaus breit, in dem sich nun Gegner und Befürworter des umstrittenen Verkehrsprojektes in der Schwabenmetropole zur Schlichtung treffen – dank Internet- und TV-Übertragung für jedermann zu verfolgen. Doch kurz darauf gibt es schon wieder Zoff: Die Projektgegner hätten die Unterlagen, die die Befürworter bei ihnen angefordert hätten, »noch immer nicht« abgeliefert, klagt die Landesverkehrsministerin Tanja Gönner (CDU). Woraufhin Klaus Arnoldi vom »Verkehrsclub Deutschland« (VCD) zurückgibt: Da müsse man schon die 15 Jahre berücksichtigen, in denen sich die Kritiker bei den Projektplanern um detaillierte Auskünfte bemüht hätten. Dann mahnt Geißler erneut zur Ordnung.
Unzählige Demonstrationen hat Stuttgart in den letzten Wochen gesehen – am Donnerstagabend etwa eine von 5000 Befürwortern des Projektes, eine ähnliche war für den heutigen Abend geplant. Auch die Gegner lassen nicht locker, mit einem »Protestzug« wollen sie am Montagabend nach Berlin fahren, um dort am Dienstag ihr Anliegen erneut zu Gehör zu bringen.
Doch nun wird parallel geredet – bis in die letzten Details. Begriffe wie »Durchbindungen«, »Ausschlüsse«, »Fahrstraßenkonflikte«, »Grundtakt« und »Verdichterzüge« fliegen durch den Raum. Ist ein Durchgangs- oder Kopfbahnhof besser für Stuttgart – das ist das Thema dieses ersten Tages.
Alles, was beschlossen worden sei, bleibe rechtens, hatte Heiner Geißler die Veranstaltung eröffnet. Doch bleibe es die Aufgabe der Politik, ihre Meinung auch ändern zu können – zumal in einer »Mediendemokratie«. Geißler lobte Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU), der sich zwar zum »Faktencheck« eingefunden hatte, sich an der Diskussion aber nicht beteiligte. Auf der Befürworterseite sitzen weiterhin CDU-Ministerin Tanja Gönner, Stuttgarts OB Wolfgang Schuster (CDU), Bahn-Technikvorstand Volker Kefer und Dagmar Starke von der Stuttgarter Nahverkehrsgesellschaft. Die Kritiker werden von Gangolf Stocker vertreten, der Protest-Gallionsfigur. Auch Boris Palmer, der Grünen-Bürgermeister von Tübingen, der langjährige SPD-MdB Peter Conradi, Klaus Arnoldi vom VCD, Hannes Rockenbauch, der 30-jährige Stadtrat des Bündnisses SöS (»Stuttgart Sozial und Ökologisch«) gehören zur Delegation.
Gemessen an der Vorgeschichte ist der Tonfall jetzt sehr rational. Eine Einigung bleibt aber unwahrscheinlich. Der Grünen-Fraktionschef im Ländle, Winfried Kretschmann, hat das erneut unterstrichen: »Entweder man geht unter die Erde oder man bleibt oben«, bringt er den Konflikt auf den Punkt. Und Winfried Herrmann (Grüne), Vorsitzender des Bundestags-Verkehrsausschusses, sieht weiter die größeren Zusammenhänge: Allein die veranschlagten 4,1 Milliarden Euro würden reichen, das ganze deutsche Güterverkehrsnetz zu sanieren.
Am Ende des Gespräches, das ein wenig an die »Runden Tische« in der DDR erinnerte und in dem die Projektgegner deutlich in der Offensive waren, fand Geißler anerkennende Worte für das gemeinsame »Demokratieexperiment«. Fortgesetzt werden die Gespräche am kommenden Freitag.
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