Der Mangel im Überfluss
Ein Streifzug durch die Evolutions- und Kulturgeschichte des Essens
Kaum ein anderes Fernsehformat in Deutschland erfreut sich derzeit so großer Beliebtheit wie die Kochshow. Auf fast allen Kanälen, ob öffentlich-rechtlich oder privat, präsentieren sogenannte Starköche ihren Zuschauern mehrmals in der Woche die erlesensten Speisen: Kräuterbrathendl mit Fenchel-Gewürz-Füllung, Aprikotiertes Lammfilet an Rotwein-Honig-Sauce, Dorade in der Salzkruste auf Avocado-Kartoffel-Gratin ...
Führt man sich jedoch vor Augen, dass es hierzulande Zehntausende von Kindern aus »Hartz-IV-Familien« gibt, die sich nicht einmal ein warmes Mittagessen leisten können, dann kann man diese Zurschaustellung des kulinarischen Überflusses kaum anders als zynisch bezeichnen. Hinzu kommt, dass inzwischen rund eine Milliarde Menschen weltweit hungern, und dass täglich fast 30 000 Kinder an den Folgen von Unterernährung sterben. Auf deutschen Fernsehkanälen indes streitet man darüber, zu welcher Speise wohl welche Trüffelart am besten geeignet sei.
Es ist überhaupt ein Kennzeichen unserer Kultur, dass immer mehr Menschen den Respekt vor den »einfachen« Nahrungsmitteln verlieren. Denn der Supermarkt, so scheint es, bietet dafür eine unerschöpfliche Quelle. Und kaum jemand stört sich daran, dass ganze Scharen von Bauern in Asien, Afrika und Lateinamerika nur damit beschäftigt sind, den Konsumenten in den Industrienationen zu dienen und diese mit allerlei exotischen Pflanzen- und Tierprodukten zu versorgen. Die große Distanz zwischen dem Ort der Lebensmittelerzeugung und dem Ort ihres Verzehrs ist für den Verbraucher zudem moralisch entlastend. Muss er doch nicht mit ansehen, wie die Tiere leben, leiden und sterben, deren Produkte er in seinem Kühlschrank lagert.
Nie zuvor in der Geschichte gab es ein solches Überangebot an Nahrung und so viele Menschen mit Übergewicht. In Deutschland zum Beispiel sind derzeit rund 50 Prozent der Erwachsenen und 20 Prozent der Kinder zu dick. Seit Jahren steigt die Zahl der Übergewichtigen stetig an. Und das, obwohl Ernährungsberater und Diätfanatiker nicht müde werden zu erklären, was, wann und wieviel der Einzelne essen soll, um schlank zu bleiben.
Einen anderen Weg hat jetzt der Wiener Biologe Franz M. Wuketits eingeschlagen. In seinem Buch »Wie der Mensch wurde, was er isst« richtet er seinen Blick auf unsere evolutionäre Vergangenheit und damit auf eine Zeit, in der es weder Ernährungsberater noch Kalorientabellen oder Diätpläne gab.
Zunächst erfährt der Leser, dass der Mensch, was seine Ernährung angeht, im natürlichen Vergleich in einer durchaus komfortablen Lage ist. Während bei manchen Tieren die täglich benötigte Futtermenge das Doppelte ihrer Körpermasse ausmacht, muss der Mensch nur ein bis zwei Prozent seines Gewichts als Nahrung zu sich nehmen. Und er ist der geborene Allesfresser, der fast nichts verschmäht, was man verzehren kann. Dennoch waren viele Menschen vor Jahren schockiert, als herauskam, dass unsere Vorfahren sich lange Zeit von Aas ernährt hatten. Damit nun keine Missverständnisse aufkommen: Mit Aas sind hier nicht vergammelte Kadaver gemeint. Vielmehr konsumierten auch unsere Vorfahren frisches Fleisch, das tierische Räuber in der afrikanischen Savanne liegen gelassen hatten.
Mit der Nutzung des Feuers (vor ca. 800 000 Jahren) begann eine neue Etappe in der menschlichen Evolution. Nun konnte die zuvor zähe Nahrung weich gekocht und durch Räuchern länger haltbar gemacht werden. Aber weder zu jener Zeit noch nach der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht erwirtschafteten die Menschen größere Nahrungsüberschüsse. Es war daher für unsere Vorfahren eine zweckvolle Strategie, bei jeder sich bietenden Gelegenheit soviel salz-, zucker- und fettreiche Nahrung aufzunehmen wie möglich. Denn niemand konnte wissen, wann ihm ein solches Glück das nächste Mal widerfahren würde. Hierin liegt, wie Wuketits betont, die evolutionäre Wurzel für des Menschen Hang zur Völlerei. Der archaische Verhaltensantrieb: »Iss alles, was du kriegen kannst!«, wirkt offenkundig auch in Zeiten randvoller Supermärkte weiter.
Dass zur Fülligkeit neigende Menschen allein aus gesundheitlichen Gründen im Nachteil sind, hat sich herumgesprochen. Doch was kann man dagegen tun? Zunächst sollte man das Problem der »richtigen« Ernährung nicht unnötig verkomplizieren, meint Wuketits, der sich zugleich verwundert darüber zeigt, dass viele Ernährungsberater nachgerade so tun, als müsse der Mensch das Essen erst erlernen. Als Biologe empfiehlt er stattdessen, von unseren prähistorischen Ahnen zu lernen, die, hätten sie sich falsch ernährt, mit Sicherheit früh ausgestorben wären.
Ein Beispiel: Fast jeder Ernährungsberater weist heute darauf hin, wie wichtig das Frühstück für unsere tägliche Fitness sei. Ich für meinen Teil kriege am Morgen keinen Bissen herunter, so dass meine erste Mahlzeit das Mittagessen ist. Laut Wuketits lebe ich damit ähnlich wie ein Steinzeitmensch, der gewöhnlich mit leerem Magen loszog, um sich neue Nahrung zu beschaffen. Und das brauchte natürlich Zeit, so dass unsere Vorfahren oft erst spät am Tag zu ihrer ersten Mahlzeit kamen. Damit ist nichts gegen ein leckeres Frühstück gesagt. Allerdings sollte man »Frühstücksverweigerer« nicht dazu zwingen, mit Unlust eine morgendliche Mahlzeit in sich hineinzuschieben, da dies, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, nicht unbedingt die Lebensgeister stärkt.
Andere Menschen nehmen noch spät am Abend oder in der Nacht ein Häppchen zu sich. Auch sie gefährden damit keineswegs ihre Gesundheit, sofern sie bei der späten Nascherei Genuss empfinden und daraus kein Gelage machen. »Allgemeine – für jeden verbindliche – Regeln in puncto ›gesunde‹ Ernährung aufzustellen, ist nicht möglich; ein solcher Versuch wäre geradezu unseriös«, betont Wuketits. Vielmehr sollte jeder selbst herausfinden, was ihm gut tut und was nicht. Es spricht im Grunde auch nichts dagegen, wenn jemand hin und wieder über die Stränge schlägt und seinen Appetit bei einer deftigen Mahlzeit stillt. Dazu nochmals Wuketits: »Ein üppiges Festbankett hat seinen Reiz; es steigert das Wohlgefühl und lädt obendrein zu sozialen Kontakten ein.«
Glaubt man hingegen so mancher Werbung, dann ist das Essen für geschäftige Menschen längst zu einem notwendigen Übel geworden, welches man möglichst rasch hinter sich bringen sollte, um mehr Zeit für vermeintlich wichtigere Dinge zu haben. Das Stichwort hierzu lautet »Fastfood«. Bei dieser Form der Nahrungsindustrie werden die Speisen nicht nur schnell produziert, sondern auch schnell verzehrt, wenn nötig im Stehen oder Gehen. Angesichts der weltweiten Verbreitung von Fastfood-Ketten spricht der amerikanische Soziologe George Ritzer bereits von einer »McDonaldisierung« unserer Gesellschaft, die das Essen zu einer rein funktionalen Tätigkeit degradiert. Und so leben wir heute in der paradoxen Situation, dass einerseits die Zahl der Nahrungsmittel unentwegt (und häufig unnötig) wächst, andererseits aber immer weniger Menschen in der Lage sind, auch aus finanziellen Gründen, diese Fülle zu genießen.
Global gesehen muss man hier sogar von einem Skandal sprechen. Denn während die sogenannte Wohlstandsgesellschaft Unmengen an Lebensmitteln verschwendet, haben die Menschen, die diese großenteils produzieren, oft kaum das Nötigste zum Leben. Man möge daran denken, wenn prominente Fernsehköche uns demnächst wieder ins »kulinarische Schlaraffenland« entführen.
Franz M. Wuketits: Wie der Mensch wurde, was er isst. Die Evolution menschlicher Ernährung. Hirzel Verlag Stuttgart, 148 S., 19,80 €.
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