Im Nebel

Mirko Böttchers »Last Memory Hülya S.«

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.

War die Bühne hier schon einmal so breit angelegt? Lina Antje Gühne platzierte im Theaterdiscounter nebeneinander drei Holzboxen. Mit Teichfolie ausgelegt, werden sie zu Wasserbecken. Weiße, auf Stahlseile gehängte, hin wie her zu bewegende Plastikplanen grenzen den Aktionsraum ab. Das ist der Spiel-Raum für Mirko Böttchers Stück »Last Memory Hülya S.«. Eine exzellente Inszenierung, die sich durch Ideenreichtum und ungewöhnliche Mittel und Wege auszeichnet – Unglaubliches am Stück.

Lässt sich der Vorname Hülya mit Illusion und Fantasie ins Deutsche übersetzen, so prägen diese die von Böttcher auch geschriebene Inszenierung. Eigentlich ist es ein Krimi. Die 18-jährige Deutsch-Türkin Hülya war in Berlin in einer heißen Mainacht am Görlitzer Ufer zu Tode gekommen. Sie hatte sich zum Unwillen ihrer Familie mit Jan, dem Deutschen, eingelassen. Den »Kartoffel-Typ« mögen die Türken nicht. Mit ihm hätte Hülya der Familie Schande bereitet. Musste sie deshalb verschwinden? Der Fall wurde nicht aufgeklärt.

Die seinerzeit ermittelnde Kommissarin ist inzwischen selbst am Ende ihres Lebens angelangt. Doch aus dem Sterben wird nichts, denn die noch am Rande des Totenreichs herumgeisternde Hülya stößt sie zurück und wird sie dort erst einlassen, wenn der Fall gelöst ist.

Böttcher nennt sein Konzept interkulturelle, multiästhetische Wahrheitssuche. Er lässt türkisch-arabische Erzählweise in einer reizvollen Art auf Berliner Alltag treffen und würzt das mit schwarzem Humor. Die weißen Planen auf der Bühne sind der Nebel, der sich über die Erinnerungen der Kommissarin gelegt hat.

Annette Daugardt spielt glaubhaft die ausgebrannte Ermittlerin, die zunächst widerwillig, aber mit zunehmendem Biss die Wahrheitssuche anhand ihrer Erinnerungen aufnimmt. Leichtfüßig, mit entrücktem Lächeln, verkörpert die seit Kindheitstagen in Berlin wohnende Türkin Ivan Anderson die sanften Druck ausübende Hülya. Sinan Al-Kuri und Serkan Sahan sind die männlichen Mitglieder der türkischen Familie. Den »Kartoffel-Typ« Jan gibt Florian Rummel gut sich über Konflikte hinweg träumend.

Wie oft, wenn es ans Ermitteln geht, kommen Geheimnisse aller Betroffenen ans Licht. Nicht bewältigte Probleme liegen bloß. Böttcher schmückt diese Mainacht noch mit der Milieuschilderung der durch Müllabfuhrstreik stinkenden Stadt. Außergewöhnlich an Mirko Böttchers Inszenierung ist die musikalische Seite. Der Konzertgitarrist Daniel Mandolini begleitet das Stück per Beatboxing.

«Hülya« ist ein starkes Stück, an dem auch Anna Verena Freybott mitarbeitete, die gemeinsam mit Böttcher im Heimathafen Neukölln schon »Von Kartoffeln und Kanaken« produzierte.

3.-6.11., 20 Uhr, Theaterdiscounter, Klosterstr. 44, Mitte, Tel.: 28 09 30 62

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