Büchner brutal
Theaterkapelle Friedrichshain inszeniert »Woyzeck«
So soll Theater sein! So war es zumindest einmal: Ein klappriger Wagen wird mitten in der Stadt aufgebaut. Ein paar schrille Gestalten – im Falle dieser Friedrichshainer »Woyzeck«-Inszenierung ein als Leopard verkleidetes Hundchen mit ebenso gestaltetem Herrchen oder ein mit Plüschratten bestickter Punk-Veteran – heizen mit provokanten Sprüchen das herbeieilende Volk auf. Von einem durch Sub-Bass-Frequenzen einstürzenden Fernsehturm wird da gefaselt. Arbeiter, Arbeitslose und Hartz IV-Empfänger werden gegen die Autoritäten aufgehetzt. Etwas Novemberrevolution wird gespielt.
Plötzlich aber geht der Büchnersche »Woyzeck« los. Das »freie Feld«, das bei dem hessischen Dramenhelden allerlei Gestalten evoziert, war gerade noch revolutionäres Schlachtfeld. Was Woyzeck sieht, sind Phantome vergangener Aufstände.
Selten hat man in der Zeit der festen Theaterhäuser ein Theaterspektakel so eindrucksvoll die Straße erobern sehen, wie es dieser Friedrichshainer Edition des Woyzecks gelingt. Kieztypisch »Woyzecken – Bürger, Trinker, Antifa« überschreibt die Regisseurin und Leiterin der Theaterkapelle, Christina Emig-Könning, ihren jüngsten Wurf. Und tatsächlich lädt sie das Sozialdrama mit Zeit- und Lokalkolorit prächtig auf. Lange nicht hat man die dem Hessischen abgelauschte Kunstsprache Büchners so vital und geerdet erlebt, wie sie aus dem Munde des riesenhaften Tambourmajors (Volker Wackermann) dringt. Der ist mit seinen ca. zwei Metern Körpergröße schon physisch eine Traumbesetzung.
Eine köstliche Szene ist die Begegnung mit Marie (Katrin Huke). Beider Gewalt, beider Lust prallt aufeinander, drängt aber auch gleichzeitig wieder weg. Hinzu kommt: Die verzweifelte Suche nach dem richtigen Wort, dem richtigen Ausdruck, der das innere Brennen adäquat beschreibt, lässt sie rasend werden. Und Lust schlägt in Aggression um – Aggression gegen sich selbst und Aggression gegen die anderen. Das ist brillant beobachtet und exzellent gestaltet.
Melancholische, stille Szenen freilich gehen Emig-Könning und ihrem Ensemble nicht so souverän von der Hand. Die stille Tragik von Woyzeck in seiner Begegnung mit Marie wird nur schwach entwickelt. Eindruck macht dieser Woyzeck (Asad Schwarz) lediglich als vereinsamte Leidensgestalt. Dann verzieht sich nicht nur sein Gesicht, sondern sein ganzer Kopf vor Schmerz. Dass er auf dieses Muster gebracht wird, ist allerdings auch Folge der recht groben machtpolitischen Lesart der gesamten Inszenierung. Individuelle Gefühle sind nur Ausdruck von Konstellationen. Woyzeck handelt nicht selbst, sein Tun ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Das verschärft den Konflikt, gewiss. Aber der individuelle Gestaltungsspielraum von Figur und Spieler verengen sich dadurch enorm. Immerhin hat die Regisseurin eine Ebene der ironischen Selbstbeobachtung der Figuren eingebaut.
Ungeachtet der Einschränkungen ist diese Kiezvariante vom »Woyzeck« ein gewaltiges Theatererlebnis, dem man noch viele Zusammenrottungen auf der Boxhagener Straße wünscht.
Theaterkapelle, Boxhagener Str. 99, 4./5./7.11., jeweils 20 Uhr
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