Was ist Heimat?

Lebenswege jüdischer Einwanderer

  • Nora Goldenbaum
  • Lesedauer: 3 Min.

Lenin starb, und zwei Monate später erschien ich.« Irina Gluschkina ist 1924 im ukrainischen Poltawa geboren. Sie hatte gerade die Schule beendet, als Hitler die Sowjetunion überfiel. Ihr Bruder kämpfte an der baltischen Front und warnte sie vor den deutschen Antisemiten, riet zur Flucht. Aber viele Verwandte, die den Ersten Weltkrieges miterlebt hatten, wollten seinen Warnungen nicht glauben. »In ihrer Erinnerung waren die Deutschen zuvorkommene und kultivierte Menschen, keine Ungeheuer.« Irina und ihre Mutter flohen jedoch nach Buchara in Usbekistan und überlebten dort Krieg und Holocaust.

Irina G., studierte Philologin, lebt seit 1997 in Deutschland. Sie ist zu ihrer Tochter, die einen Deutschen geheiratet hat, nach Oberhausen gezogen, erhält eine finanzielle Unterstützung für den Verlust der ihr von den Nazis genommenen Angehörigen. Ihr Sohn lebt in Australien. Befragt über Gegenwart und Zukunft der Juden in Deutschland antwortet sie: »Juden, denke ich, sollten sich hier ungemütlich fühlen. In Australien dagegen kann man ruhig sagen: Ich bin ein Jude. Und Punkt! Eine Frage – eine Antwort. Aber in Deutschland ...«

Ksenia Glas, geboren 1990, ist sich erst in Deutschland ihrer jüdischen Wurzeln bewusst geworden. Heute kennt sie sich im Judentum besser aus als ihr Vater und ihre Mutter. Sie ist russisch-orthodox getauft, besucht aber gern die Synagoge. »Wenn ich irgendwelche Stars im Fernsehen sehe, die auch jüdisch sind, dann denke ich: ›War klar!‹ Das ist das Jüdische in mir: dass ich stolz darauf bin, dass ich dazu gehöre, dass ich es cool finde.« Entscheidend für die Ausreise ihrer Eltern 1998 sei nicht Verfolgung, sondern die Verschlechterung der Lebensbedingungen in ihrer ukrainischen Heimat gewesen, erzählt sie, die nach der Schule gerne Sängerin werden möchte.

Dahingegen erlebte Oleksandr Bohdanov, Jg. 1967, in der Ukraine Judenhass. Deshalb übersiedelte er 1999 mit seiner hochschwangeren Frau nach Deutschland. Der Bauingenieur ist dankbar für die Unterstützung, die er hier erhält, und doch möchte er sich seinen Unterhalt lieber durch eigene Leistung verdienen. »Wir kamen, wir haben Bildung, wir haben den Arbeitswillen. Ich dachte, ich werde gebraucht, aber Pustekuchen.«

Der studierte Historiker Isidor Kogan ist 1936 in Leningrad in einer assimilierten jüdischen Familie geboren worden, die im März 1942 aus der von den deutschen Eroberern belagerten Stadt an der Newa über den Ladoga-See fliehen konnte. 1947 zog die Familie nach Riga um. Die Unabhänigkeit der baltischen Staaten Anfang der 90er Jahre ruft zwiespältige Erinnerungen hervor: »Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich, die Lebensmittel wurden knapp. Auch die medizinische Versorgung wurde schlechter, die Sicherheit für den folgenden Tag ging verloren.« Außerdem häuften sich antisemitische Vorfälle. 1997 stellten Isidor K. und seine Frau den Ausreiseantrag, dem zwei Jahre später stattgegeben wurde. Obwohl schon über zehn Jahre in Deutschland, fühlt er sich immer noch fremd. »Heimat ist dort, wo man verstanden und geliebt wird«, sagt er.

Es sind eindruckvolle, berührende Geschichten, die Svetlana Jebrak und Norbert Reichling gesammelt haben. 107 jüdische Germeinden gibt es heute in der Bundesrepublik und über 100 000 organisierte Mitglieder. Die hier gebotenen Lebenswege vermitteln einen repräsentativen Überblick. Eine Chronik jüdischen Lebens in Deutschland vom Mittelalter bis jetzt beschließt den Band.

Svetlana Jebrak/Norbert Reichling (Hg.): Angekommen?! Lebenswege jüdischer Einwanderer. Hentrich & Hentrich, Berlin 2010. 176 S., br., 12,90 €.

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