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Partei der Proteste und der Parlamente

Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen feiert erfolgreichen Widerstand und beginnende Wahlkämpfe

Von der Straße an die Regierung: Für die Grünen ist das kein Widerspruch. Das versuchen sie zumindest bei ihrem Parteitag glaubhaft zu machen.

Neben den obligatorischen Sträußchen aus Sonnenblumen auf den Tischen finden sich Schilder, auf denen »K 21« steht oder der Schriftzug »Stuttgart 21« rot durchgestrichen ist, »Atomkraft nein danke« oder »Gorleben ist überall«, hier und da auch ein schmales gelbes »X«. Vereinzelte längere graue Bärte und strickende Frauen sind auszumachen. Die weitaus meisten der Delegierten, die zur Bundeskonferenz nach Freiburg gereist sind, befinden sich »in der Rushhour des Lebens«, wie die politische Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke es ausdrückt, sind »gut angezogen« ohne spießig zu wirken. Dieter Salomon ist schier aus dem Häuschen. »Das ist genial!« ruft er, hätte er doch, als er vor 30 Jahren bei den Grünen eintrat, nicht gedacht, dass er einmal eine Bundesdelegiertenkonferenz als Oberbürgermeister von Freiburg eröffnen würde.

Der Held aus Stuttgart

Begeistert klopfen die Delegierten an beiden Abenden um 19 Uhr rhythmisch auf Wasserflaschen, pusten in Thrillerpfeifen und formieren Sprechchöre: »Oben bleiben!« Die »Schwabenstreiche« für den Erhalt des Stuttgarter Kopfbahnhofs mögen auf dem Potsdamer Platz in Berlin und anderswo Wirkung auf ahnungslose Passanten gehabt haben. Auf dem Parteitag der Grünen überraschen sie kaum und richten sich gegen niemanden. Sie bestätigen allenfalls, dass Winfried Kretschmann, Fraktionschef im Stuttgarter Landtag, so etwas wie der heimliche Held der Veranstaltung ist.

Sein Plädoyer für den Stopp von Stuttgart 21 darf er zu einem prominenten Termin am Samstagmittag halten, während die Anträge unter der Überschrift »Verschiedenes« ansonsten am Samstagabend abgehandelt werden. Kretschmann erhält Standing Ovations für seine Rede, in der sich der Ministerpräsident in spé jenseits der Bahnhofsgeschichten wenig konkret dafür ausspricht, »das Verhältnis von Staat, Markt und Bürgergesellschaft« neu ordnen zu wollen. Wie ein Gladiator zieht er anschließend durch die Reihen der Delegierten. Der Antrag wird bei einer einzigen Enthaltung angenommen.

Bescheiden wollen die Grünen bleiben. Kretschmanns geflügeltes Wort macht die Runde, »auf dem Teppich« bleiben zu wollen, »auch wenn der gerade fliegt«. Die Grüne Jugend überreicht dem neuen Bundesvorstand einen Teppich mit Klebeband, um ganz sicher zu gehen, dass niemand abhebt. Aber beflügelt sind doch alle von den Umfrageergebnissen der letzten Zeit, von den Protesten gegen Stuttgart 21 und gegen den Castor, die sie vollständig als ihre eigenen Erfolge verbuchen. Angesichts dessen meinen sie sogar, der Politikverdrossenheit im Lande ein Ende gesetzt zu haben. Renate Künast will die »Demokratie im 21. Jahrhundert entwickeln« und schummelt die vergleichsweise bescheidenen Proteste gegen den Weiterbau der A 100 in Berlin und diverse Kohlekraftwerke verbal unter die Großdemonstrationen der letzten Wochen. Ebenso versucht es Claudia Roth mit dem »Protest gegen die Abwälzung der Krise auf die Schwächsten«, der tatsächlich vergleichsweise klein ausfiel.

Für radikale Akzeptanz

Die vielen kleinen Konflikte, bei denen grüner Protest und grüner Regierungswillen bisweilen aufeinander treffen, werden dezent angedeutet. Nicht alles werde ohne Konflikte ablaufen, sagt Parteivorsitzender Cem Özdemir. Wer die Energierevolution wirklich ernst meine, der müsse »auch radikal genug sein, im Zweifel Speicherkapazitäten und Durchleitungskabel in seiner Nähe zu akzeptieren.« Und weiter: »Irgendwo werden die Gaskraftwerke stehen müssen.« Vergleichsweise glimpflich ist da die Auseinandersetzung um die Bewerbung Münchens für die Olympischen Winterspiele, die nach einem Antrag aus Bayern mit dem Rückzug der Partei aus dem Kuratorium der Bewerbungsgesellschaft endet. Viel lieber möchte man erleben, wie die Grünen irgendwann in der Zukunft als Regierungspartei ein geeignetes Endlager für Atommüll aussuchen und gegen lokale Bürgerinitiativen durchsetzen.

Der »gigantische Applaus«, zu dem Özdemir am Ende des Parteitags auffordert, wäre noch gigantischer ausgefallen, hätten die Delegierten nicht gleichzeitig grüne Schildchen mit der Zahl 2011 und einem Pfeil nach oben hochhalten sollen.

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