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Charaktermasken
Das neue Marx-Engels-Jahrbuch widmet sich der Individualität
Einer der großen Moralisten unserer Zeit, Ulrich Wickert, hat unlängst im Fernsehen eine besonders tiefgründige Auslassung von sich gegeben: »Ach nee, will ich sagen. Nicht zurück zu Karl Marx ... Für mich gibt es zwei Gründe, warum ich sage Karl Marx ist out. Erstens: Er ist ein Ideologe. Und wir haben gesehen, dass die Ideologien, ganz egal von welcher Seite sie kommen, uns ins Unheil führen, denn auch George Bush war ein Ideologe. Und zweitens: Der Marxismus ist versucht worden in die Praxis umzusetzen. Und es hat nichts gebracht. Das hat Unglück gebracht, denn einer der ganz großen Fehler des Marxismus ist, dass das Eigentum quasi verboten wird. Aber mit dem Eigentum ist die Freiheit verbunden.«
O-Ton aus dem Zenit der öffentlich-rechtlichen Bildung. Herrn Wickert scheint nicht bewusst zu sein, dass jedes Urteil über einen anderen auch ein Urteil zur eigenen Person enthält. Wer nur ein bisschen was von Marx gelesen hat, weiß doch: Der Bürgersohn aus Trier war allerhand, aber ein Ideologe am allerwenigsten; seine Kritik an phrasenhaften Formulierungen, zum Beispiel im Gothaer Programm der Sozialdemokraten, ist Legende.
Aber bleiben wir beim angeblichen Outsourcing des Karl Marx aus dem öffentlichen Bewusstsein. Es vergeht keine Woche, in der sich nicht eine der führenden Tageszeitungen auf Marx bezieht. Von den Lesezirkeln und Seminaren wollen wir gar nicht sprechen. Die Anzahl der Editionen sowohl von Originalschriften der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus als auch der sekundären Literatur hat in den letzten Jahren auffallend zugenommen. Zu letzteren gehört das Marx-Engels-Jahrbuch, seit 2003 ein Forum, in dem strittige Aspekte diskutiert werden. Ein Marxist sollte sich diese Quelle der Inspiration nicht entgehen lassen.
Der jüngste Band hat die Individualität von Akteuren zum Schwerpunkt, das, was die Eigenart von Personen in ihrem Verhältnis untereinander und in der Gesellschaft ausmacht. Es gibt in den Schriften von Marx zwei Denkweisen von Subjektivität, wie Oliver Flügel-Martinsen, Hannover, klarmacht: Eine anthropologische Konzeption, der eine Vorstellung vom guten, gelingenden Leben innewohnt, das sich in tätiger Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, insbesondere mittels Arbeit erfüllt – oder durch Entfremdungsprozesse nicht erfüllt. Der zweite Strang ist eine sozialtheoretische Denkweise, wonach sich Individualität erst in der Gemeinschaft mit anderen Individuen voll entfalten kann.
Flügel-Martinsen vergleicht die Vor- und Nachteile beider Konzepte. Er stellt eine Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Essentials nicht in Abrede, plädiert aber für eine klare Abgrenzung. Und kommt zu dem Schluss, dass die Fixierung der Subjektivität auf das gute Leben »nicht nur unhaltbar, sondern geradezu misslich« ist. Warum? Weil dabei eine Norm des »guten Lebens« vorausgesetzt wird. Aber jeder kann sich darunter etwas anderes vorstellen. Die anthropologische Begründung von Subjektivität ist manipulierbar; sie kann romantischen Vorstellungen ebenso unterliegen wie technokratischem Erfüllungsdrang. Eine demokratische Regierungsform wäre nicht zwangsläufig notwendig.
Individualität, die »erst in der Gemeinschaft« sich herausbildet, weil nur durch die soziale Interaktion »persönliche Freiheit möglich« wird, diese Verknüpfung taucht zum ersten Mal in der »Deutschen Ideologie« auf. Als entfremdet (und zur individuellen Entfremdung führend) muss aus dieser Perspektive ein Zustand erscheinen, in dem Strukturen und Institutionen der Sozial- und Weltbeziehungen sich verselbständigt haben. Allein dieser sozialtheoretischen Fundierung von Subjektivität ist nach Dafürhalten des Autors »eine Idee demokratischen Selbstregierens konstitutiv eingeschrieben«.
Das hat politische Konsequenzen, sowohl für die Regierungs- als auch für die Oppositionspolitik, für die Wertediskussion und das persönliche Engagement. Die sozialtheoretische Konzeption der Subjektivität ist insofern der Praxis näher als die anthropologische, da die Ziele und Charakteristika der Selbstbestimmung des Menschen nicht nach einem Idealbild vorgegeben sind, sondern durch Verständigungsprozesse über die Konflikte der Gesellschaft formuliert werden müssen.
Einem anderen umstrittenen Begriff wendet sich der Historiker Christoph Henning, St. Gallen, zu: Charaktermaske. Auch dieses Wort hat bei Marx zweierlei Sinn. Er gebraucht es, von der Maske (der Verstellung) des Schauspielers hergeleitet, metaphorisch. Wenn sich zum Beispiel Herr Gauck während seiner Kandidatur zum Bundespräsidenten einmal als »links«, ein andermal als »konservativ« bezeichnet, setzt er verschiedene Masken auf. In den ökonomischen Schriften jedoch bekommt das Wort eine tiefere Bedeutung. Danach erscheint die »individuelle Manier« als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse. In diesem Sinne sind »Charaktermasken der Person nur die Personification der ökonomischen Verhältnisse«. Henning geht der Spur nach, in wie weit sich hinter der »ökonomischen Charaktermaske« in Marx Hauptwerk ein Konzept von freier Individualität verbirgt.
Marx-Engels-Jahrbuch 2009. Akademie Verlag, Berlin 2010. 238 S., geb., 39,80 €.
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