Innertürkische Selbstfindung
Kadir Memis' »Hüzün_Ein schmerzlicher Verlust« im Hebbel am Ufer
Seit langem sind die Helden des Hip-Hop auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Die Battles auf der Straße, der Kurs im Jugendklub dienen zum Erlernen der Stilistik. Der Hip-Hop von heute will aber mehr: Geschichten erzählen, die Bühne erobern. Einer von denen im Aufbruch ist Kadir »Amigo« Memis. Geboren in einem anatolischen Dorf, seit dem zehnten Lebensjahr in Berlin, ist er einer der führenden Köpfe jener Jugendkultur. Nach seinem Debüt mit »ZEY’BrEaK« 2009 arbeitet er in »Hüzün_Ein schmerzlicher Verlust« fürs Hebbel am Ufer wieder eigene Geschichte auf und wirkt dadurch ungemein authentisch.
Um Selbstfindung geht es und wie ihn die neue Heimat empfangen hat. Innenkonflikte der türkischen Diaspora macht »Hüzün« sichtbar und bedeutet damit einen weiteren Schritt hin zu einem eigenständigen Tanztheater auf Basis des Hip-Hop.
Zu Anfang zeigt ein Video, was türkische Frauen so über Männer denken. Von Macho bis kinderlieb seien sie, daheim weit weniger dominant als in der Öffentlichkeit. Nervös marschiert auf der Bühne unter der Leinwand ein alter Mann in den Kolonnaden eines Hauses auf und ab; hinter Gaze sieht man vier Gestalten. Mit gesenktem Kopf bilden sechs Spieler eine Reihe, gehen langsam auf die Zuschauer zu, hinein ins Leben. Versonnene Musik, live erzeugt von Nevzat Akpinar auf einer Baglama, der türkischen Langhalslaute, begleitet sie bei ihrem Zug mit Flugpose. Ein Junge tanzt wild, wird mehrfach von der Teig knetenden Mutter heimgerufen, bis sie ihn an den Ohren zieht: Du bleibst jetzt hier. Dort aber ist er Anwürfen, Kommandos und Beschuldigungen ausgesetzt, wird gehetzt, hält sich beim Streit der Eltern die Ohren zu. Hör auf zu weinen, alle sehen uns zu, herrscht ihn der Vater an.
Percussion, Baglama und Teigschlagen geben den Rhythmus für ein Solo, das auch Folkloreschritte einbezieht und in der Körperverknotung endet. Das gesprochene Wort wird dann konkret.
Von ihrer Beschneidung berichten zwei Männer, ohne Betäubung, mit dem Rasiermesser, beinah gestorben sind sie als Kinder vor Schmerz und an den Blutungen, du bist jetzt ein Mann, hieß es. Die Eltern wollten nach Deutschland, ließen den Jungen mit vier bei einem Onkel zurück. Der Lehrer schlug mit dem Gebetskranz, bis die Perlen fielen. Nur auf der Weide beim Schafehüten und Singen war dem Jungen wohl. Dann holten ihn die Eltern nach Berlin, waren ihm fremd geworden, verloren fühlte er sich mit 12 in der großen Stadt. Und wird wieder gehetzt, diesmal von den eigenen Leuten, die ihm klarmachen, wer nicht reagiert, ist Opfer. Drogen, Geld, Frauen bilden ihr magisches Dreieck, hart sind die Regeln der Straße, Spucken und Genitalfassen Gesten des Mannes.
Ein verwackeltes Video erinnert an die alte Heimat, zwei Gedichte stehen für die beiden Sehnsüchte: eine nach Istanbul, die andere nach Berlin.
Ein Mann wird Soldat, marschiert und schießt drei in den Tod, ehe er selbst fällt. Eine Frau spielt mit einem roten Tuch, das von der Mantilla zu Rock und Schleier wird; ihr Tanz pendelt zwischen Flamenco und Hip-Hop. Krude reden im Video türkische Männer über sich: Ich bringe meiner kranken Frau Wasser, wenn sie mich darum bittet, sagt einer. Halb tot lacht sich da die Teigkneterin, verunsichert den jungen Mann, als er sich ihr nähern will und tanzend die eigene Identität befragt. Es ist der alte Mann, der die Fassade des Hauses zum Wanken bringt. Wieder findet sich die Reihe zum gedehnten Vorwärtsgang, endet in Keilformation, diesmal mit der Frau an der Spitze. Ein mutiger, hoffnungsvoller Schluss, Aufruf zugleich an die eigene Community zur Veränderung.
Drei Schauspieler und drei Tänzer transportieren den vieldeutig interpretierbaren »Schmerzlichen Verlust«. Mit seinem virtuosen Tanz ist Louis Becker glaubhaft der Junge zwischen allen Fronten.
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