Wohnen in der Hauptstadt der Arktis
Von »Stalinki«, »Chruschtschowki« und »Derewjaschki«
Im November 1945 verkündete die sowjetische Regierung, der Wiederaufbau von 15 Städten, darunter Murmansk, habe Priorität. Geld wurde bereitgestellt, der große Städtebau begann. Sergej Kirow, einer der Gründerväter der Industrie im Murmansker Gebiet, meinte damals, nirgends sonst zeigten sich die Maßstäbe staatlichen Bauens so deutlich wie in Murmansk.
Die meisten Wohnhäuser im Zentrum sind denn auch sogenannte »Stalinki« – erbaut in der Stalin-Ära bis Mitte der 50er Jahre. Sie sind noch immer sehr beliebt und daher teuer, weil sie zentral liegen und als stabil und bequem gelten: hohe Decken, große Zimmer, gute Isolation.
Später, in der Regierungszeit Nikita Chruschtschows, entstanden in Murmansk wie in anderen sowjetischen Städten die sogenannten »Chruschtschowki« – einfachere und daher billigere drei- bis fünfstöckige Häuser, wie sie bis in die 80er Jahre errichtet wurden.
Freilich findet man in Murmansk auch neuere Stadtteile mit neunstöckigen Plattenbauten. Aber es gibt auch noch etliche ein- bis zweistöckige Holzhäuser selbst in der Stadtmitte. Die zweistöckigen nennt man Halbbaracken, im Volksmund heißen sie »Derewjaschki«, was so viel wie »Holzklötze« bedeutet. Sie wurden zum größten Teil gleich nach dem Krieg gebaut, angeblich gibt es aber auch welche, die schon in der 30ern errichtet wurden. Sie galten als provisorisch, bis 1980 sollten sie eigentlich abgerissen sein, später hieß es, das würde bis 2000 geschehen. Der größte Teil aber, soweit nicht inzwischen abgebrannt, steht immer noch.
Ljubow Wassiljewna wohnt zusammen mit ihrem Sohn Jewgeni und mehreren Katzen in einer solchen Halbbaracke. »Im Winter fühlen wir uns fast wie auf der Straße, denn der Wind zieht durch die ganze Wohnung. Die Wände sind undicht, haben viele Ritzen. Eine Dusche wurde nie eingebaut, deshalb waschen wir uns in der Küche, in Plastikschüsseln stehend«, erzählt die Frau. »Warmes Wasser gäbe es auch nicht, aber wir haben, wie andere auch, ein Loch in den Heizkörper gebohrt und einen Wasserhahn daran befestigt. Das Wasser ist zwar schmutzig, rostig und stinkt, aber es ist warm.«
An der Wand hängen schäbige Tapeten, auf dem Boden, dessen Farbe abgewetzt ist, stehen Plastikschüsseln und Töpfe, schmutziges Geschirr, alte Möbel. »Bitte nicht die Toilette benutzen. Sie ist kaputt«, warnt Ljubow Wassiljewna. Die Spülung geht nicht, der Abfluss ist verstopft, der Deckel lässt sich nicht schließen. Katzen sind Ljubows einzige Freunde.
»Meine Mutter hat ihr ganzes Leben lang gehofft umzuziehen, ich auch, aber ich glaube nicht, dass ich jemals von hier wegkomme«, sagt Jewgeni, der als Straßenfeger hart arbeitet und seine Mutter miternährt. »Lange werde ich das nicht mehr aushalten. Schon jetzt merke ich, dass mein Körper kaputt ist, und dann weiß ich nicht, wie wir die Wohnung bezahlen werden.«
Fast alle »Holzklötze« sind schief, haben undichte Wände und Decken, brüchige Treppen, eingeschlagene Fenster, kein warmes Wasser, keine Dusche. Wo es Wasserleitungen gibt, sind die Rohre oft verstopft, andere geplatzt. In manchen Wohnungen darf man im Winter den Wasserhahn nicht zudrehen, damit die Leitungen nicht einfrieren. Die Wasserrechnungen sind entsprechend hoch. Doch die Halbbaracken zu renovieren lohnt sich nicht, eine neue Wohnung aber ist für Jewgeni und seine Mutter unbezahlbar. Der Lohn des Straßenreinigers ist gering, die Arbeit besonders im Winter schwer erträglich.
Überhaupt sind viele der Murmansker Wohngebäude arg renovierungs- und modernisierungsbedürftig. Vor sechs Jahren wurde für 350 Häuser der Notstand erklärt. Zu dieser Zeit lebten dort fast 10 000 Menschen. Bis heute hat sich daran nicht viel verändert. 2005 sollten zwar statt der baufälligen Halbbaracken neue Sozialwohnungen gebaut werden. Doch der Staat blieb seinen Anteil schuldig und das Budget der Stadt reichte nicht aus. Nur 138 Familien aus zum Abriss bestimmten »Holzklötzen« erhielten neue Wohnungen – viele davon jedoch in älteren Bauten, die in fünf bis zehn Jahren ebenfalls baufällig werden könnten.
Man tröstet sich damit, dass es vorübergehend sei und dass man irgendwann eine Wohnung in einem Neubau bekommen werde, der an der Stelle abzureißender Halbbaracken entstehen wird. Viele Murmansker klagen indes, dass zwar Supermärkte, aber keine Wohnhäuser gebaut würden. Einige unvollendete und verwahrloste Plattenbauten verschandeln bereits das Stadtbild.
Eine Modernisierung der eigenen »vier Wände« – auf eigene Kosten – können sich nur die Neureichen leisten, die »Neuen Russen«. Viele träumen von einer sogenannten »Eurorenovierung« unter Einsatz moderner Technologien und Baustoffe. Da werden auch schon mal zwei Wohnungen zu einer einzigen vereinigt und Grundrisse verändert. Eine solcherart aufgewertete Wohnung gilt als Statussymbol. Ein eigener Boiler für warmes Wasser und hohe Stromrechnungen sind für die Bewohner kein Problem.
Zum Beispiel Ilja Swerew: Seinem Vater gehört eine Wurstfabrik, deren Spezialitäten Rentierprodukte sind, seine Mutter züchtet Rassekatzen. Die Swerews wohnen in der Stadtmitte in einer »Stalinka«, die natürlich »eurorenoviert« ist. Sie sind eine der wenigen Familien, die weder die Willkür einer Hausverwaltung noch allgemeine Existenzprobleme kennen.
Valentina Iwanowa lebt im selben Wohnblock wie die Familie Swerew. »Gewöhnlich wird das warme Wasser im Sommer einen Monat lang abgedreht, weil man die Rohre repariert. Das ist schon eine Qual, aber wir haben uns daran gewöhnt. Aber auch im Winter gibt's manchmal kein Wasser«, klagt Valentina. »Im vergangenen Jahr wurde das warme Wasser unerwartet Anfang Februar abgestellt, weil angeblich der Boiler völlig kaputt war. Wir wurden aufgefordert, selbst einen neuen Boiler zu kaufen. Vor Jahren noch wären solche Forderungen absurd gewesen, denn das wäre Sache der Hausverwaltung gewesen. Jetzt sagt man uns, dass es legitim sei. Dabei erfuhren die Bewohner dreier Häuser von Inspektoren, dass der alte Boiler eigentlich in gutem Zustand sei. Etwas stimmt da nicht!«
»Im Sommer wurde uns versprochen, dass es im September wieder warmes Wasser gibt. Tatsächlich wurde das warme Wasser wieder angestellt, allerdings fließt es nicht täglich, da der Boiler angeblich nur provisorisch repariert wurde«, fährt Valentina fort. Nach wie vor fordert man von den Bewohnern mal 17 500, mal 25 000 Euro für einen neuen Boiler. Schon der schwankende Preis nährt den Verdacht, dass man sie ausnehmen will. Die Betroffenen bilden Initiativen und klagen vor Gericht. »Ein Winter ohne warmes Wasser ist eine Folter, aber keiner will sich mit unseren Problemen beschäftigen«, fügt Valentina traurig hinzu, »dabei habe ich noch Glück, dass ich nicht in so einer Halbbaracke wohne.«
Juri Lushkow, der ehemalige Bürgermeister Moskaus, hatte Murmansk, um die Wohnungsprobleme zu lindern, zwei solide Neubauten geschenkt. Bauleute aus Moskau errichteten die Gebäude, so versorgte Lushkow seine Landsleute mit Arbeit. Die Bewohner der »Holzklötze« gegenüber beobachteten gespannt den Fortschritt der Bauarbeiten, denn sie freuten sich schon auf die neuen Wohnungen. Als die im Volksmund nach Lushkow benannten Häuser standen, wurden jedoch nur die Wohnungen in der ersten und in der neunten Etage vergeben. der Rest wurde zum Kauf angeboten. Der Traum vieler Menschen zerstob: Sie können die Häuser mit den teuren Wohnungen nun täglich aus dem Fenster betrachten, aber umziehen können sie nicht.
Drei bis vier Generationen sind inzwischen in den Murmansker »Holzklötzen« aufgewachsen. Wie viele werden ihnen wohl noch folgen?
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