Israel – ein siedlerkolonialer Staat?

Der Zionismus basiert auf dem ethnischen Nationalismus Europas. Doch auch die linke »Dekolonisierungsthese« ist problematisch

  • Ralph Leonhard
  • Lesedauer: 20 Min.
Für die Palästinenser markierte die Gründung Israels ihre »Nakba« – die Katastrophe ihrer Vertreibung.
Für die Palästinenser markierte die Gründung Israels ihre »Nakba« – die Katastrophe ihrer Vertreibung.

Gewöhnliche Landräuber wie die Türken oder Briten, mit dem Unterschied, dass ihr das Land ohne die Menschen wolltet. Und der zionistische Slogan – »ein Land ohne Menschen für ein Volk ohne Land« – widerlegte sich selbst, als ich die dicht bewohnten arabischen Städte sah, die mürrisch unter jüdischer Vorherrschaft lebten. Soll ich es ironisch formulieren? Juden wurden just in dem Moment Kolonisatoren, als andere Europäer die Idee aufgegeben hatten.

Christopher Hitchens „Hitch 22“

Juden waren nicht als »Weiße« anerkannt

Es gibt wenige Begriffe, die in der israelisch-palästinensischen Debatte für mehr Zerwürfnis sorgen als »Siedlerkolonialismus«. Man hört ihn ununterbrochen. In Teilen der Linken ist es ziemlich en vogue, alle Israelis moralisch als »Siedler« zu attackieren. Im Wissenschaftsbetrieb gibt es eine regelrechte Industrie der siedlerkolonialen Studien, die stark von Patrick Wolfe beeinflusst sind und in denen der Israel-Palästina-Konflikt eine zentrale Rolle einnimmt. Für einen wichtigen Teil der heute existierenden Linken scheint die »Dekolonisierung Palästinas« als Projekt wichtiger zu sein als eine sozialistische Weltrevolution.

Selbstverständlich wird dieser Darstellung widersprochen. Der israelische Wissenschaftler Ilan Troen hat behauptet, der siedlerkoloniale »Turn« bei der Analyse des israelisch-palästinensischen Konflikts sei ein »weiterer Baustein im linguistischen Arsenal des juristischen Kriegs, mit dem Israels Legitimität geleugnet werden soll«. Simon Sebag Montefiore hat den Kolonialbegriff in einem Essay in The Atlantic unlängst als toxischen, historisch unsinnigen Mix aus marxistischer Theorie, sowjetischer Propaganda und traditionellem Antisemismus aus dem Mittelalter und dem 19. Jahrhundert beschrieben. James Heartfield tat die Darstellung Israels als siedlerkolonialen Staat in Spiked als »irreführenden« Unsinn ab. Und Alan Johnson vom Fathom Journal wandte in einem Twitter-Thread gegen die Anwendung des siedlerkolonialen Paradigmas auf Israel ein, auf diese Weise werde die Einzigartigkeit der jüdischen Notlage unsichtbar gemacht, die den jüdischen Staat überhaupt erst notwendig machte.

Der Vorwurf, Israel sei ein siedlerkolonialer Staat und der Zionismus eine siedlerkoloniale Bewegung, ist vor allem für viele Juden empörend. Er scheint die historische Verbindung des Judentums mit Eretz Israel zu leugnen und porträtiert israelische Juden als »weiße« europäische Eindringlinge, die sich in einem arabischen Land kaum anders verhalten als Buren in Südafrika, Pied-noirs in Algerien oder die weißen Siedler in Rhodesien. Doch zum einen besteht mindestens die Hälfte der israelischen Bevölkerung aus Mizrachim und sephardischen Juden, die von Geflüchteten aus benachtbarten Ländern abstammen und aus diesem Grund ebenso »indigen« in der Region sind wie jede andere Gruppe. Zum anderen kann der Begriff des Siedlerkolonialismus insofern als zusätzliche Beleidigung empfunden werden, weil aschkenasische Juden ja genau deshalb unterdrückt wurden, weil sie nicht als »weiß« oder europäisch anerkannt waren. Das Konzept des Antisemitismus wurde von deutschen Rassisten geprägt, die Juden als »semitische Rasse« und eben nicht als Europäer betrachteten.

Indigene Völker oder freie Gesellschaft für alle

Tatsächlich würden vielen Zionisten entgegnen, dass Juden das indigene Volk seien, denen es mithilfe einer »dünnen, aber bedeutsamen Kontinuitätslinie« (um Abba Ebans Formulierung zu verwenden) über drei Jahrtausende hinweg gelang, eine enge Bindung an das Heilige Land aufrecht zu erhalten. Der ehemalige israelische Botschafter in den USA Michael Oren behauptete in einem Interview mit The New Yorker gar, Juden hätten ebenso ein »unanfechtbares Recht«, überall in unseren »Stammesgebieten« (dem Westjordanland genauso wie in Tel Aviv) zu siedeln, wie es »ein Mitglied der Sioux-Nation auf dem Territorium der Sioux beanspruchen kann«. Schließlich habe die zionistische Bewegung kein »Neu-Wilna« oder »Neu-Krakau« gegründet, sondern die alten biblischen und talmudischen Ortsnamen aus dem Hebräischen wiedereingeführt. Wie kann es sich um Siedlerkolonialismus handeln, wenn ein indigenes Volk in seine alte Heimat zurückkehrt?

Wir sollten nicht vergessen, dass die zionistische Bewegung auch lange Zeit der Linken und sogar dem Sozialismus eng verbunden war. Allein diese Tatsache kann einen zu der unbewussten Annahme verleiten, dass eine scheinbar in der sozialistischen Tradition verankerte Bewegung nicht in einem Atemzug mit dem Adjektiv »kolonial« genannt werden sollte. Das Bild von Juden, die in ihr verlorenes Land »heimkehren« und eine sozialistische Gemeinschaft errichten, scheint mit einem kolonialen Projekt unvereinbar zu sein. Im Gegenteil: Es wirkt wie eine noble Sache, mit der man zumindest sympathisieren sollte. Besonders da die »arabische Sache« nicht als Projekt nationaler Befreiung, sondern als in Gestalt semifeudaler Oligarchien auftrat, die für eigene reaktionäre Interessen kämpften.

Im Übrigen lässt auch die dekoloniale »Linke« zu wünschen übrig. Aufgrund ihrer Ablehnung des Universalismus als »weiß« und »westlich« beruht ihr Radikalismus auf einem rassifizierten aufständischen Partikularismus. Ihrem Begriff der »Dekolonisierung« hängt der muffige Geruch eines reaktionären Ethnonationalismus und eines Eingeborenen-Restaurationismus an – anstatt eine freie Gesellschaft für alle anzustreben. Ihr Ressentiment und ihr rassistischer Geschichtsblick verdammt »People of Colour« dazu, Subalterne zu sein, denen keine andere Wahl bleibt, als Widerstand gegen die Moderne zu leisten. Für sie ist der Siedlerkolonialismus mehr eine rhetorische als eine analytische Figur; ein Symbol des Bösen, das beseitigt werden muss, damit kosmische Gerechtigkeit hergestellt werden kann.

Die Rolle des britischen Mandats

Doch das Paradigma des Siedlerkolonialismus – das nicht so neu ist, wie viele denken – kann durchaus auf eine sinnvolle Weise auf Israel und den Zionismus angewandt werden, wie Arnon Degani, Lorenzo Veracini oder zuvor Maxime Rodinson gezeigt haben. Eine siedlerkoloniale Bewegung ist, zusammengefasst, die Bewegung von Siedlern aus einem Teil der Welt in einen anderen, wobei die Siedler das Territorium in ihr eigenes, souveränes und gewöhnlich vom imperialen Zentrum autonomes Gemeinwesen verwandeln, was fast immer auf Kosten der ursprünglich dort lebenden Bevölkerung oder zumindest von Teilen von ihr geht.

Auch wenn Siedlerkolonialismus und Kolonialismus oft miteinander einhergehen, gibt es Unterschiede zwischen beiden. Der eine besteht darin, dass der Kolonialismus einer Logik der Extraktion folgt, bei der die Kolonisatoren von den Einheimischen verlangen, »für sie zu arbeiten«. Siedler hingegen wollen das Land und nicht die Menschen. Sie wollen, dass die Einheimischen »verschwinden«, damit das Land durch importierte Arbeitskräfte bestellt werden kann. Der Zionismus ähnelte eindeutig eher letzterem – die Siedler hatten kein Interesse, der arabischen Bevölkerung Mehrwert abzupressen. Stattdessen wollten sie möglichst viel Land mit möglichst wenigen Arabern, um den Weg für eine jüdische Besiedlung und ein mehrheitlich jüdisches Gemeinwesen freizumachen.

Die fehlende Differenzierung erklärt teilweise, warum es so heftigen Streit um die Bezeichnung Israels als siedlerkolonialen Staat gibt. Zwei Argumente werden gewöhnlich als Trumpfkarten ausgespielt, um zu belegen, warum Israel keinen siedlerkolonialen Ursprung hat. Das erste lautet, dass die zionistische Bewegung keine Metropole im Rücken hatte, wie es bei den englischen Siedlern etwa in Kenia der Fall war. Die Juden wurden nicht von der britischen Krone entsandt, um Palästina zu kolonisieren, sondern sollten ihre Eigenstaatlichkeit erlangen.

Das mag stimmen, aber Anführer des Zionismus und im Besonderen Chaim Weizmann, betonten immer, dass ein Bündnis mit einer Großmacht die »einzige externe Garantie zur Erreichung zionistischer Ziele« war, wie es Yosef Gorny formulierte. Trotz der Spannungen zwischen der zionistischen Bewegung und dem britischen Empire steht außer Frage, dass die zionistische Bewegung ohne die britische Mandatsmacht nicht in der Lage gewesen wäre, die Unterstrukturen, Siedlungsnetzwerke, die demografische Macht und die Institutionen zu entwickeln, die sich später in den Staat Israel verwandeln würden. In anderen Worten: Das britische Mandat ermöglichte objektiv das nationale Kolonisierungsprojekt der zionistischen Bewegung in Palästina.

Das zweite Argument, wie es etwa von James Heartfield formuliert wird, hebt hervor, dass die zionistische Bewegung nicht siedlerkolonial war, weil sie 1944 bis 1947 einen Aufstand gegen die Briten zur Durchsetzung der Unabhängigkeit organisierte. Doch widerspricht die Tatsache, dass Buren, englische und spanische Kolonisatoren in Nord- und Südamerika ihre Unabhängigkeit gegen imperiale Zentren erkämpften, einer Charakterisierung der Gesellschaften in Südafrika, den USA oder Lateinamerika als siedlerkolonial? Sicherlich nicht. Es ist vielmehr ein Merkmal von Siedlergesellschaften, dass diese über den imperialen Souverän hinauswachsen.

Siedlerkolonisierung in der Westbank

Wenn man die zionistische Bewegung strukturell als siedlerkolonial bezeichnet, bedeutet das nicht notwendigerweise, die historische jüdische Verbindung zum Heiligen Land, die Geschichte der Unterdrückung von Juden in christlichen und muslimischen Gesellschaften zu negieren oder gar eine »Abschaffung« Israels zu fordern. Tatsächlich zogen prominente Vertreter der zionistischen Bewegung selbst Parallelen zwischen ihrer und anderen Siedlerbewegungen. Es wäre zu einfach und ziemlich billig, auf die Geschichte zionistischer Organisationen zu verweisen, die die Begriffe colonial oder colonization wie etwa die »Jewish Colonization Association« selbst im Namen trugen. Aber nehmen wir den Fall Arthur Ruppins, der als »Vater der zionistischen Besiedlung« gilt. Ruppin ließ sich vom deutschen, auf der Enteignung von Polen beruhenden Siedlungsprojekt in Preußen inspirieren, das er kopieren und für die »nationale Kolonisierung« Palästinas weiterentwickeln wollte. Als der Arbeiterzionist Haim Arlosoroff 1927 nach einer Analogie suchte, um die Bedingungen der zionistischen Bewegung seiner Zeit zu vergleichen, sagte er, Südafrika sei »fast der einzige Fall, der bei objektiven Bedingungen und Problemen Ähnlichkeit aufweise und uns deshalb eine Analogie erlaube.«

Selbstverständlich gibt es Zeev Jabotinsky, den Begründer des zionistischen Revisionismus, der in seinem infamen Essay in Iron Wall kein Problem damit hatte, den Zionismus als »Kolonisierungsunternehmen« zu bezeichnen und die Zionisten mit den »Pilgervätern« in Nordamerika zu vergleichen. Eine Sichtweise, bei der die palästinensischen Araber – eine lebendige Nation, keine »bestechliche Horde« – die Rolle indigener Amerikaner spielen, die »auf Palästina mit derselben instinktiven Liebe und wahrer Inbrunst blicken, mit der jeder Azteke auf sein Mexiko oder jeder Sioux auf seine Prärie blickte«. Sein Argument, die Hoffnung auf ein freiwilliges Abkommen mit den palästinensischen Arabern sei abwegig und daher »eine eiserne Mauer aus jüdischen Bajonetten« notwendig, beruht auf der realistischen Beobachtung, dass »jede Nation so lange gegen die Kolonisatoren kämpft, wie es auch nur einen Funken Hoffnung gibt, die Gefahr der Kolonisierung abzuwenden«.

Vor allem jedoch ist Israel heute ein siedlerkolonialer Staat, weil es eine aktive Siedlerkolonisierung in der Westbank und Ostjerusalem gibt, die auf der Enteignung und Vertreibung von Palästinensern zur »Hebräisierung« des Landes beruht. Für die Palästinenser ging es dem Zionismus immer um eine Übernahme von Land durch Neuankömmlinge, die auf die Enteignung der lokalen Bevölkerung und deren Exklusion vom Arbeitsmarkt auf die Errichtung einer neuen politischen Ordnung abzielte, in der die Araber ersetzt werden sollten. »Die Furcht vor territorialer Vertreibung und Enteignung war seit 1948 (und natürlich auch nach 1967) der wichtigste Motor des arabischen Widerstands gegen den Zionismus«, stellt Benny Morris in Righteous Victims: A History of the Arab-Zionist Conflict fest. Wie begründet die »Furcht vor territorialer Vertreibung und Enteignung« war, zeigte sich im Krieg 1948 (der Nakba), in dessen Verlauf etwa 750 000 palästinensische Araber dauerhaft von ihrem Land vertrieben wurden. Die arabische Gesellschaft kollabierte und musste ins Exil gehen.

Der Fall Liberia

Das ist der rationale und materielle Ursprung der palästinensischen Ablehnung des Zionismus. In diesem Sinne hat das Israel von 1948 mehr mit Argentinien, Australien und den USA gemein, wo auf den Ruinen einer davor existierenden nativen Gesellschaft ein souveräner Staat und eine neue soziale Ordnung errichtet wurden. Was den Aufbau einer nur den Siedlern zugute kommenden Infrastruktur und die von einem »Mutterland« finanzierte und beschützte Besiedlung eines besetzten Landes gegen ein Heer feindlicher Ureinwohner betrifft, entspricht das Siedlerprojekt in der Westbank eher dem französischen Algerien oder dem weißen Südafrika. Aber noch passender und für die Debatte erhellender wäre eigentlich ein Vergleich Israels mit Liberia.

Jede Analogie hat ihre Schwächen, aber die grundlegende Parallele zwischen der zionistischen und der liberianischen Bewegung besteht darin, dass ein Teil eines unterdrückten Diaspora-Volkes eine utopische nationalistische Bewegung gründete, die auf Partikularismus, der Ablehnung von Assimilation und der »Rückkehr« in eine verlorene Heimat der Vorfahren beruhte, in der eine neue Gesellschaft aufgebaut und die eigene Nation »wiederhergestellt« werden sollte. Bei dieser »Rückkehr« geraten die Bewegungen jedoch in Konflikt mit den Einheimischen, von denen sie als Kolonisatoren und Eindringlinge betrachtet werden, was wiederum die Enteignung und Unterwerfung letzterer nach sich zieht und in einem mehrere Jahrzehnte anhaltenden Konflikt mündet.

David Ben Gurion und die provisorische Regierung bei der Verkündung der Unabhängigkeit 1948 in Tel Aviv.
David Ben Gurion und die provisorische Regierung bei der Verkündung der Unabhängigkeit 1948 in Tel Aviv.

Dennoch wäre es unzureichend, den Zionismus nur als siedlerkoloniale Bewegung zu betrachten; er war auch eine Nationalbewegung. Über den Zionismus ist viel gesagt worden, aber ihn als Nationalbewegung und nicht nur als Kolonisierungsvorhaben zu verstehen bedeutet, ihn in den historischen Kontext des sich entwickelnden modernen Nationalismus im postaufklärerischen Europa zu stellen.

Die Revolutionen in Amerika und Frankreich hinterließen uns das erste ideologische Konzept der Nation, wie wir es heute kennen. Der proklamierte Nationenbegriff war der einer auf gemeinsamen demokratischen und republikanischen Werten beruhenden politischen Gemeinschaft. Dieser Definition folgend gehört der Staat zu den auf seinem Territorium lebenden Bürgern. Bemerkenswert am Nationenbegriff der Aufklärung war sein Universalismus. Es sollte für niemanden religiöse, kulturelle oder ethnische Grenzen geben, Bürger der demokratischen Republik zu werden. Das Vaterland stellte ein zu erreichendes bürgerliches Ideal und kein geografisches Konzept dar. Außerdem verstand man den Nationalstaat ausgehend von der kosmopolitischen Ethik nicht als permanente Realität, sondern als historisch transitorisches Phänomen; eine Zwischenstufe bei der Entwicklung zu noch universalistischeren Formen gesellschaftlicher Organisation. Man sehnte sich nach dem Tag, an dem die Menschen – wie es Anacharsis Cloots formulierte – sagen können würden: »Die Welt ist mein Land. Die Welt ist meine Heimat.« Emanzipation und nationale Assimilation der Juden beruhten auf dieser inklusiven revolutionären Definition von Nationalität.

Die Nation der deutschen Romantik

Doch nach den napoleonischen Kriegen gewann ein anderes Nationenkonzept die Überhand, das kulturell und nicht politisch begründet war. Die Nation wurde als vorpolitische Einheit betrachtet, ihre Rhetorik war die der Romantik. Als Kennzeichen der Nationalität galt die Sprache, die als wichtigstes Band der Gemeinschaft verstanden wurde. Vor allem die deutsche Romantik stellte das liberale Ideal der Nation grundlegend infrage. Sie verwarf die Vorstellung, wonach eine nationale Gemeinschaft auf gemeinsamen politischen Idealen begründet sein könnte. Stattdessen wurde behauptet, eine Nation beruhe auf Blutsbanden, die manche Menschen »natürlich« miteinander verbinde und andere ebenso »natürlich« ausschließe. Da Nationalität auf Ethnie beruht, unterscheidet sich jedes »Volk« grundlegend von anderen und sollte sich daher unabhängig und getrennt in einem »organisch« zu ihm gehörenden Land entwickeln. Der »Charakter« des Staates wiederum wurde als Projektion der organischen Nation verstanden.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelten sich aus diesen Ideen jene ganzheitlich antisemitischen Nationalismen, die Europa verschlingen sollten. »Die Nation« und nicht das Individuum wurde als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung etabliert. Damit einher ging die Feststellung, dass Juden nicht wirklich zur Nation gehörten. Sie galten als »Fremdkörper«, der aufgrund seiner semitischen »Essenz« nicht ins Gemeinwesen integriert werden konnte. Um die Nation »zu vollenden«, mussten die Juden ausgerottet werden.

Diese Ideologie lehnte die Emanzipation des Judentums und die Möglichkeit einer jüdischen Integration in die Gesellschaft grundsätzlich ab, weil die antijüdischen Vorurteile rassisch und, nicht wie in der vormodernen Gesellschaft, religiös begründet waren. Der Zionismus – als eine Unterströmung jenes jüdischen Nationalismus, der sich aufgrund der Notlage der Juden im 19. Jahrhundert entwickelte – weist eine deutliche Nähe zu den romantischen Nationalbewegungen auf, wie sie im nachaufklärerischen Europa florierten. Selbst seine »aufgeklärtesten« Teile stützten sich eher auf den Differenz-Universalismus Herders als auf den Kosmopolitismus Condorects. Sowohl in seiner Diagnose der jüdischen Notlage als auch hinsichtlich seiner Prognose eines jüdischen Staates steht der Zionismus im Widerspruch zum kosmopolitischen Liberalismus der Aufklärung – und zum Marxismus als dessen Ableger.

Zum einen verhandelte er die existenzielle Bedrohung der Juden als nationale Frage. Dieses Verständnis beruhte auf der Annahme, dass eine Nation durch ihre »organischen« und »tiefen« Bande definiert sei und dass die jüdische Nation durch derartige Bande und vor allem das Blut zusammengehalten werde. Da die Juden eine Nation bildeten, waren sie zu ihrer eigenen nationalen Souveränität berechtigt – und mussten diese auch herstellen. Jede vorstellbare Lösung der »jüdischen Frage«, die nicht von der feststehenden »Tatsache« einer jüdischen Nationalität ausging, war notwendigerweise weltfremd. Moses Hess spottete über das »universelle Streben des Kosmopoliten nach einer Menschlichkeit, das jeden Unterschied im Organismus der Menschheit auszulöschen sucht«. Die Harmonie zwischen verschiedenen Ethnien / Nationen der Welt ist vorstellbar, nicht aber deren Überwindung.

»Ewige Fremde« und »organische Heimstatt«

Zum anderen naturalisierte der Zionismus den Antisemitismus. Für ihn war der Antisemitismus der beklagenswerte, aber »natürliche« Impuls eines von einem störenden Fremdkörper infizierten Nationalkörpers – was Jabotinsky als »Antisemitismus der Dinge« bezeichnete. Da die Juden eine »Gespenster-Nation« repräsentierten (wie es Leon Pinsker ausdrückte) und nicht im eigenen Geburtsland verwurzelt waren, würden sie überall, wo sie lebten, »ewige Fremde« bleiben. Bestenfalls würden Diaspora-Juden gefeierte »Gäste« in Ländern sein können, die nicht ihnen, sondern einer christlichen Mehrheit mit einer einzigartigen historisch-spirituellen Verbindung zu eben diesem Land »gehörten«. Deshalb wird das Bleiberecht der Juden immer von der Duldung der Nichtjuden abhängen – es ist niemals garantiert und kann jederzeit entzogen werden.

Aus diesem Grund schrieb Karl Kautsky, der Zionismus komme dem Antisemitismus auf halbem Wege entgegen. Es ist eine auf Verzweiflung und Niederlage beruhende Strategie. »Jede Form des Zionismus«, schrieb Arthur Hertzberg in der Einleitung zu The Zionist Idea, »impliziert notwendigerweise einen gewissen Verlust von Hoffnung, was die zukünftige totale Anerkennung des Juden als Individuum durch die Mehrheitsgesellschaft angeht.« Für den Zionismus ist letztlich jede Anstrengung zum Scheitern verurteilt, die Ethnie oder den Antisemitismus der Nichtjuden im Namen bürgerlicher Gleichheit oder der kommunistischen Revolution zu überwinden. Die einzige Hoffnung, Juden könnten als freie Menschen in der modernen Welt leben, ohne ihre angeborene jüdische Identität preisgeben zu müssen, verkörperte der jüdische Staat, in dem die Juden die Mehrheit bildeten. Er würde die jüdische Nation »normalisieren«, weil diese nun wie jede andere Nation der Welt über ein Vaterland verfügen würde, das sie durch historisches Recht »besaß« und zu dem sie authentisch »gehörte«.

Im exklusiven und romantischen Ethnonationalismus der zionistischen Ideologie war der Konflikt mit den Palästinensern angelegt. Denn dem Zionismus verfolgte die Gründung eines jüdischen Staats in der »organischen« Heimstatt der Juden und unter Voraussetzung einer jüdischen Mehrheit. Es war ein Staat, in dem die Nichtjuden – die palästinensischen Araber – bestenfalls eine unerwünschte Gruppe darstellten, die weder zum (jüdischen) politischen Gemeinwesen noch »zum Land« gehörten. Araber mochten ein »Wohnrecht« in diesem Staat erhalten, aber nur die jüdische Nation »historische Ansprüche« auf Eretz Israel / Palästina besitzen. Dementsprechend sind alle politischen Rechte, die Araber im jüdischen Staat genießen, nur mit Duldung gewährt – können also auch jederzeit entzogen werden.

Um das Endziel dieses jüdischen Staates zu materialisieren, musste man, wie es Chaim Weizmann formulierte, »Palästina so jüdisch machen, wie England englisch ist«. Doch weil Palästina zu dieser Zeit fast völlig arabisch war, benötigte die zionistische Bewegung den Kampf mit den palästinensischen Arabern um das Land, was schließlich eine ethnische Säuberung nach sich zog. Wenn man den Zionismus und Israel in dieser Form versteht, begreift man, dass Israel in der Geschichte der Nationalstaaten nicht etwa, wie oft behauptet, die große Ausnahme, sondern den Regelfall darstellt.

Dazu verdammt, das Land zu teilen

Die zionistische Bewegung musste die Mittel der Siedlerkolonisierung einsetzen, um das Ziel eines jüdischen Nationalstaats durchzusetzen. Es war notwendige Voraussetzung, um eine verstreute jüdische Diaspora zur Bildung einer jüdischen Mehrheit in einem bestimmten, bereits von anderen Menschen bewohnten Gebiet versammeln zu können. Wo immer die zionistische Bewegung einen jüdischen Staat errichtet hätte, wäre ein Konflikt mit der einheimischen Bevölkerung kaum zu vermeiden gewesen. »Es war eine historische Tragödie des Zionismus«, schreibt Walter Laqueur in seinem Standwerk über die Geschichte des Zionismus, »dass er auf der internationalen Bühne erschien, als es keine weißen Flecken auf der Karte mehr gab« (ein Aspekt, auf den auf andere Weise auch der antizionistische Trotzkist Abram Leon hingewiesen hat). CLR James kritisierte 1938 die Idee, eine jüdische Heimstatt in Kenia zu schaffen, als einen Versuch Europas, sein »jüdisches Problem« in Afrika abzuladen, während es seine eigenen Grenzen für jüdische Flüchtlinge geschlossen hielt, und damit die Voraussetzungen für einen Konflikt mit den bereits enteigneten einheimischen Afrikanern zu schaffen, die ihren Zorn gegen die Juden und nicht gegen die Imperialisten richten würden.

Das Paradigma des Siedlerkolonialismus ist nicht falsch, aber besitzt nur begrenzten analytischen Wert. Es trägt nicht unmittelbar zu einer Lösung des Problems bei, da verschiedene siedlerkoloniale Gesellschaften unterschiedliche Ansätze zur Versöhnung von »Siedlern« und »einheimischer« Bevölkerung verfolgt haben. Außerdem lässt sich Israel-Palästina nicht einfach auf den Siedlerkolonialismus reduzieren; es ist auch eine ungelöste nationale Frage. So existiert eine solide hebräischsprachige nationale Gemeinschaft, die überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, jüdisch und zweifelsohne in Palästina verwurzelt ist. Für sie gibt es kein »Mutterland«, in das sie zurückkehren könnte, sodass jegliches Gerede über eine »algerische Lösung« ins Leere laufen muss – nicht nur, weil sie eine Tragödie für Palästina wäre, sondern auch, weil sie eine Tragödie für Algerien darstellte. Jeder sozialistische Ansatz muss vermeiden, dem Ethnonationalismus des Zionismus mit einem anderen Ethnonationalismus zu begegnen.

Ein Teil des Problems besteht darin, dass sich die Politik in Israel/Palästina immer weniger als Kampf zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen darüber definiert, wie Juden und Araber als Landsleute zusammenleben könnten, und immer mehr als existenzieller »Rassenkampf«. Ein Kampf bis zum Ende; der Gewinner bekommt alles; töten oder getötet werden; Auge um Auge; Kind um Kind. Diese Logik kann nur in Vernichtung münden, die allerdings weder möglich noch wünschenswert ist, sondern nur zu noch mehr sinnlosem Blutvergießen und Leid führen wird.

Die Feindschaft, die zwischen den beiden Völkern besteht, ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass sie sich ähnlicher sind als vermutet. Erinnerung, Trauma, »Vorfahren« und Exil sind Wörter, die im Wortschatz beider Völker fest verankert sind. Um Marx zu paraphrasieren: Das Trauma früherer Generationen lastet wie ein Alptraum auf den Gehirnen der Lebenden. Beide Völker sind Opfer von Hegels Schlachtbank der Geschichte geworden. Schließlich bedeuten Shoah und Nakba dasselbe: Katastrophe. Und doch ist das endgültige Urteil der Geschichte klar: Juden und Palästinenser sind dazu verdammt, dieses Land miteinander zu teilen, egal in welcher politischen Form.

»Zwei Dinge sind sicher«, schreibt Edward Said am Ende seines Buchs The Question of Palestine. »Die Juden in Israel werden bleiben; die Palästinenser ebenfalls. Viel mehr als das mit Sicherheit zu behaupten wäre töricht«. Es wird keine endgültige Lösung der Palästina-Frage geben. Wie lange wird es dauern, bis sich diese elementare Erkenntnis durchsetzt? Wie bei allen Dingen, die mit Palästina zu tun haben, wird es auf harte Weise herausgefunden werden müssen.

Ralph Leonhard ist ein britisch-nigerianischer Journalist. Sein Text erschien ursprünglich im Online-Magazin »Sublation«. Übersetzung: Raul Zelik.

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