Marode, aber begehrenswert

Vor 20 Jahren: Die erste Treuhandbilanz und ein Paradoxon

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 5 Min.

Anfang Januar 1991 veröffentlichte die Treuhandanstalt (THA) stolz ihre erste Privatisierungsbilanz. 500 Unternehmen und Betriebsstätten seien an Investoren verkauft worden, hieß es. Mehrheitlich handelte es sich dabei allerdings um Objekte der »kleinen Privatisierung«, von HO-Eckläden bis zu Apotheken. Bei Industriebetrieben belief sich der »Privatisierungsfortschritt« bis Ende Dezember 1990 auf 176 Unternehmen. Bedenkt man, dass dies das Ergebnis einer seit sechs Monaten mit Nachdruck betriebenen Anstrengung war, 8000 Unternehmen an den Mann zu bringen, dann war die Bilanz recht mager.

Die überwiegende Zahl der ehemaligen VEB sei gemessen am technischen Niveau ihrer Maschinen und Anlagen marode, kommentierte Treuhandpräsident Detlev Rohwedder die Verzögerungen bei der Privatisierung. Er bemängelte die »unzureichende Produktivität« der in AGs bzw. GmbHs umgewandelten Ostbetriebe und verwies auf die negativen Folgen einer jahrzehntelang betriebenen »Abschottung vom Weltmarkt«. Genauer hingesehen hat er offensichtlich nicht. Denn eine differenzierte Betrachtung der bescheidenen Privatisierungsergebnisse des ersten Halbjahres der Tätigkeit der THA als »Anstalt des öffentlichen Rechts« ergab paradoxer Weise, dass sich auf den Binnenmarkt orientierte und in ihrer Ausstattung vernachlässigte Unternehmen eher hatten verkaufen lassen als Exportbetriebe mit internationalem Renommee.

Das Fritz-Heckert-Werk in Chemnitz zum Beispiel, Stammsitz eines der drei großen Werkzeugmaschinenkombinate der DDR, war – wie der von der Treuhand eingesetzte Leiter des Unternehmens zugab – »auch im Westen bekannt gewesen, die Produkte schnitten im Vergleich nicht schlecht ab«. Der »American Machinist«, die führende Fachzeitschrift der Branche, sah die DDR im Werkzeugmaschinenbau 1976 auf Platz 5 nach der Bundesrepublik, den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und Japan, noch vor Italien, Großbritannien und Frankreich. Und selbst als das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zehn Jahre später feststellte, dass es dem DDR-Werkzeugmaschinenbau immer weniger gelang, auf westlichen Märkten Fuß zu fassen, so vermerkte es doch: »Ursachen sind weniger mangelnde Zuverlässigkeit oder geringe Leistungsparameter, wohl auch nicht fehlender Service, sondern mehr der technologische Rückstand bei modernen numerischen Steuerungssystemen.« Über die verfügte man in den Heckert-Werken nur in geringem Maße, da die im Alleingang entwickelte DDR-Mikroelektronik nicht in der Lage war, die Werkzeugmaschinen mit wettbewerbsfähigen Steuerungen auszurüsten. Zu dem Alleingang war die DDR durch das westliche Embargo und die Kooperationsverweigerung seitens der Sowjetunion gezwungen worden.

Mit diesem Steuerungs-Handy-cap war es seit der Aufhebung der Handelsschranken zwischen der DDR und dem Westen im Ergebnis der Währungs- und Wirtschaftsunion ab 1. Juli 1990 vorbei; gute Aussichten also für das bisherige DDR-Vorzeigekombinat, sollte man meinen. In Chemnitz war man deshalb auch nicht erstaunt, als Vertreter der westdeutschen Branche im Sommer und Herbst 1990 sich bei der nunmehrigen »Heckert Chemnitzer Werkzeugmaschinen GmbH« die Klinke in die Hand gaben. Die vermeintlichen Käufer fuhren jedoch unverrichteter Dinge wieder nach Hause.

Während man bei Heckert in Chemnitz 1990 noch optimistisch war, glaubte hingegen die Belegschaft der Zuckerfabrik Anklam kaum einen Grund zu haben, zuversichtlich zu sein. Denn das 1883 gegründete Traditionsunternehmen in Vorpommern war zu DDR-Zeiten nicht besser behandelt worden als die Leicht- und Lebensmittelindustrie insgesamt. Mit Investitionen wurden diese »Nichtschwerpunktzweige« – wenn überhaupt – erst bedacht, wenn der Bedarf der Grundstoffindustrien und des Maschinenbaus befriedigt waren. Während im Werkzeugmaschinenbau modernisiert wurde, entstand zwischen 1949 und 1989 nur eine neue Zuckerfabrik (in Güstrow). Hielt in der Bundesrepublik neue Technik in alte Fabriken Einzug, so blieb es in der DDR überwiegend bei den alten Ausrüstungen. Die Pro-Kopf-Leistung der Branche lag hier Mitte der 80er Jahre nach Berechnungen des DIW bei 25 Prozent der Leistung vergleichbarer Betriebe in der Bundesrepublik. Dasselbe Institut hatte für den Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau für den gleichen Zeitraum eine Pro-Kopf-Leistung im Vergleich zur Bundesrepublik von immerhin 60 Prozent berechnet.

Zum Erstaunen der Anklamer suchten ihre Zuckerfabrik jedoch im zweiten Halbjahr 1990 etliche potenzielle Investoren auf. Ob die Südzucker AG, der Zuckerverband Nord AG, die Zucker AG Ülzen oder die Pfeifer & Lange AG – die westdeutschen Branchengrößen zeigten großes Interesse, aber auch die Danisco A/S Kopenhagen. Letztere erhielt, nachdem man sich über die Aufteilung der DDR-Zuckerfabriken geeinigt hatte, für Anklam den Zuschlag – angesichts des maroden Zustandes der Ausrüstungen für den symbolischen Preis von einer DM, versteht sich. Hinzu kam die Übernahme der Betriebsschulden von 65 Millionen DM und das Versprechen, am Standort 250 Millionen DM zu investieren und 300 Arbeitsplätze zu garantieren.

Die Entscheidung für die rasche Privatisierung der Anklamer Zuckerfabrik und die Distanz der potenziellen Investoren im Falle von Heckert widersprach allem, was westdeutsche Ökonomen und Publizisten zu Beginn der Währungsunion von sich gegeben hatten, als sie von der »Stunde der Wahrheit« und von der »Auslese der zukunftsfähigen Betriebe über den Markt« sprachen. Das Paradoxon: Nicht der Betrieb mit dem deutlich geringeren Produktivitätsrückstand, dessen Erzeugnisse überwiegend in den Export gingen, interessierte Investoren, sondern die Produktionsstätte mit beträchtlich größerem Produktivitätsrückstand, die isoliert vom Weltmarkt produziert hatte. Man könnte versucht sein, dieses Paradoxon damit abzutun, dass es sich um nicht verallgemeinerungsfähige Einzelbeispiele handele. Die Schicksale der Anklamer Zuckerfabrik und der Chemnitzer Werkzeugmaschinenfabrik aber waren typisch für ihre jeweilige Branche.

Die Unternehmen aus der Bundesrepublik handelten durchaus rational. Westdeutsche Lebensmittelketten hatten auf dem ostdeutschen Markt nach der Währungsunion rasch Fuß gefasst, die Hersteller-Firmen mussten, die Kosten langer Zulieferwege bedenkend, nachziehen. Zwar hatte nach der Öffnung der Grenze ein Run der Ostdeutschen auf westliche Markenwaren eingesetzt. »Test the West« wurde aber nicht zum Dauerzustand. Die Rückbesinnung auf die bekannten ostdeutschen Handelsmarken – etwa bei Bier, Waschmitteln und Zigaretten – vollzog sich noch im Laufe des Jahres 1990. Nicht aus nostalgischen Gründen, weil etwa das Waschmittelwerk dereinst ihr gehört hatte, kaufte sich die Firma Henkel rasch in Genthin ein, sondern weil »Spee« Marktführer in Ostdeutschland gewesen war und auch bleiben sollte. Weil die Marke »f 6« im Osten einen Marktanteil von einem Drittel hatte, zögerte der Münchener Zigarettenhersteller Philip Morris nicht, bereits im September 1990 die ehemaligen VEB Dresdener Zigarettenfabriken zu kaufen. Zügig verlief auch die Privatisierung ostdeutscher Brauereien. So wurde die Radeberger Brauerei von der Bielefelder Oetker-Gruppe gekauft, Köstritzer Schwarzbier von der Bitburger Getränkegruppe, Hasseröder von der Gilde Brauerei Hannover und Lübzer Bier von der Hosten-Brauerei AG Hamburg.

Was die ostdeutschen Werkzeugmaschinenhersteller betraf, so hatten sich die westdeutschen »potenziellen Investoren« dank Treuhand und Treuherzigkeit mancher ostdeutscher Führungskräfte kostenlose Einblicke in aufschlussreiche Firmenpapiere der ostdeutschen Konkurrenz verschaffen können. Während an der Übernahme kein Interesse herrschte, wurden hingegen besonders qualifizierte Mitarbeiter sofort »übernommen« – Brain drain statt Betriebskauf.

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