Jeden Morgen Hahnenappell
»Frühstück Sprelacart« im Schaubude-Abendprogramm
Rituale sind eine praktische Sache. Auch für den Alltag. Man kann sich daran festhalten, muss seine Welt nicht täglich neu erfinden. Wer dabei Vorrechte erlangt hat, sieht zu, dass sie ihm nicht wieder abhanden kommen. Marlis Hirche und Oliver Dassing – es hat sich eingebürgert, sie als in der Puppenspielszene aktiven Pyromantiker Berlin zu bezeichnen – sind im Stück »Frühstück Sprelacart. Mit Remake eines alten Puppenspiels« gerade aus den Federn gekrochen.
Tony durchquert schon immer Mal den Fütterungsstandort, ob sich schon was bewegt. Renate, in die neuesten Nachrichten der Zeitung vertieft, findet sich auch behäbig ein. Das Radio dudelt. Er drückt sich weiter herum, wichtige Gänge vortäuschend. Endlich holt sie das Geschirr aus dem Schrank, später auch Leckeres. Worte werden nicht gewechselt. Die tun jetzt nichts zur Sache. Um so schöner sind die Gesten der zwei Spieler in ihrer vermeintlichen morgendlichen Gemeinsamkeit. So ist das immer. Die beiden sind in ihr Ritual verstrickt.
In der Inszenierung von Gabriele Hänel müsste man eigentlich sagen verhäkelt. Denn alle Utensilien auf dem Tisch sind umhäkelt. Der Stücketitel beseitigt letzte Zweifel. Einmal Sprelacart, immer Sprelacart. Bereits 1919 in Spremberg erfunden, wurde die mit Kunstharz gebundene Schichtstoffplatte in der DDR für Küchen und Schrankwände zur Marke. Selbst eine versehentlich auf der Arbeitsplatte liegende brennende Zigarette konnte mit ihrer 700-Grad-Glut keinen Schaden anrichten.
Die Schichtstoffplatte hat auch die DDR überlebt. Heute noch aus Spremberg kommend, ist Sprelacart auf dem Markt. Wahrscheinlich wird die alte Platte alles überdauern, was es so zu überdauern gibt. Soweit, so gut.
Das Vorspiel nähert sich dem Ende. In dem Stück fehlen nur noch die Frühstückseier. Die Frau verschwindet hinter den Schrank, er nutzt die Gelegenheit, sich so wüst am Tisch zu benehmen, wie er es liebt, bevor sich der Schrank in ein Puppentheater verwandelt. Was so anders sein soll an der alten Geschichte »Hahn Weltherr« kann der Zuschauer nun selbst herausfinden. Nun gibt’s jeden Morgen Hahnenappell, weil es heißt, dass sich ohne das Krähen die Welt nicht drehe. Wer war eher da? Der Hahn oder das Ei? Eine lächerliche Frage.
Gabriele Hänel und die Pyromantiker verwenden in ihrem Stück eine Inszenierung von »Hahn Weltherr«, die Peter Waschinsky 1978 frei nach dem Theaterstück von Milan Pavlik schuf. 1981 wurde es verfilmt. Der Progress Film-Verleih bewahrt es.
Die aktuelle 60-minütige Inszenierung für Jugendliche und Erwachsene besitzt schöne Metaphern. Da kommen Dinge zur Sprache oder auch nicht, die sind wie – na eben wie Sprelacart.
21. und 22.1., 20 Uhr, Schaubude Berlin, Greifswalder Straße 81, Karten-Telefon 423 43 14,
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.