Die Ängste der Anderen
In der Schaubühne aktualisieren Studenten Maxim Gorkis »Nachtasyl«
Gorki hätte nicht gefallen, dass eine Konstellation, wie er sie 1902 in seinem erfolgreichsten Bühnenwerk zeichnete, 100 Jahre später noch immer nicht überwunden ist. Zwar existiert dies Nachtasyl als dauerhafte Billigbleibe für Gestrandete so nicht mehr, hat aber, noch deprimierender, Nachtunterkünften für zunehmend mehr Obdachlose Platz gemacht. Die verzweiflungsvolle Situation der Schlafgäste gegen nur geringes Entgelt ändert das nicht. Grund genug, Gorkis Schauspiel aktualisiert aufzuführen. Studenten im dritten Ausbildungsjahr an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« tun das im Studio der Schaubühne als dritte Koproduktion beider Einrichtungen.
Peter Kleinert, Leiter der Abteilung Regie am Studiotheater bat, zeichnet verantwortlich, lässt das »Nachtasyl« in einer »Fassung des Ensembles« spielen. Viel bringen die jungen Akteure von ihrem eigenen Leben ein und haben hierbei einen doppelten Spagat zu bewältigen. Sie spielen Schauspieler und Gescheiterte anderer Berufe, die nach diversem Missgeschick in die Rollen der Gorki-Charaktere schlüpfen. Also Theater auf dem Theater.
Es handelt vor einem konvexen Streifenhorizont, der wenig Raum für Aktionen lässt. Eng ist auch der menschliche Spielraum der Figuren. Über die Welt räsonierend suchen sich die Spieler aus Kleiderhaufen die Kostümteile für die Rolle zusammen, stellen sich vor. Hinter dem natürlichen Namen verbergen sie allerdings eine fiktive Lebensgeschichte, die dann mit den Stückgestalten zusammenlaufen muss. Diese erläutern sie in eigener Auffassung, geraten rasch in politischen Diskurs.
So ist der Spieler des Kleschtsch arbeitslos, Anna, seine fast tot geprügelte, krebskrank hustende Gattin, war Sekretärin und will den undankbaren Part der Dauerleiche eigentlich nicht haben. Bubnov, der sofort nach seiner Moral befragt wird, ist Schlagzeuger. All das in knallhart heutiger, fäkalisch reich durchwürzter Sprache. Eine Horde Gestrauchelter, hoffnungslos und deshalb umso aggressiver.
Das Rückgrat der Vorlage bleibt erhalten: Der Vermieter, ein rotpelziges Ungeheuer, will Miete, seine frigide Frau weiter Dieb Vasja als Geliebten, derweil ihre schöne, schwache Schwester, die an der Bar gearbeitet hat und drogenabhängig wurde, sich zu ihren Verwandten flüchtet. Der Schauspieler wiederum strauchelt über seinen Alkoholkonsum. In ihrer Wut wettern sie gegen Gott als Aufsichtsratsvorsitzenden, gegen Kinderarbeit, Araber, Diktatur des Geldes.
Wie ein Phantom verirrt sich in dieses Menschenknäuel der etwas zwielichtige Weltverbesserer Luka mit dem naiven Wort, wenn man nichts Gutes tue, sei man schon böse. Und setzt zur Besserung der Gefallenen an. Den Schauspieler schickt er zum Entzug, Vasja mit Natascha ins Neu-Paradies Australien und nicht, wie bei Gorki, nach Sibirien. Als Luka aufgefordert wird, die Wahrheit zu sagen, antwortet er mit der Story vom Land der Gerechten, das es nicht gebe.
Nachdem die Situation eskaliert ist, Vasja den Vermieter getötet hat und ins Gefängnis kommt, geht auch Luka. Ob in Flucht oder wegen aussichtsloser Mission, steht offen. Fast hätte er zumindest den Schauspieler gerettet, da wird dessen Bewerbung abgelehnt. Wo? In der Schaubühne natürlich. Hinter der Szene erschießt er sich. Alles läuft weiter wie bisher, nur das vom restlichen Quintett gemeinsam gesungene Lied vom Lucky Man und das Plupp vom Öffnen der Bierflaschen bleiben.
Ungemein frisch wirkt diese Aneignung eines Klassikers, die auch von der überbordenden Begeisterung der elf jungen Darsteller lebt. Wenn der Schauspieler, als welcher Bernardo Arias Porras so sensibel wie ausdrucksstark brilliert, gegen die Schließung von Stadttheatern wütet, ahnt man, was die künftigen Absolventen zudem mit den Gorki-Figuren verbindet: Angst vor möglicher Chancenlosigkeit im Beruf.
Wieder 21., 22.1., 20.-24.2., Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153, Charlottenburg, Kartentelefon 89 00 23, Informationen online unter www.schaubuehne.de
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